Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
zivilisierter Welt.«
Als Pearl mit dem Zug nach Saxmundham zurückfuhr, dachte sie über das Wort »Zivilisation« nach. Sie blickte auf die zartgrünen Felder und die Finken und Spatzen, die aufflogen, als der Zug vorbeifuhr. Sie grübelte, was wohl ihr Beitrag zur Zivilisation sein würde, und fragte sich, ob es reichen würde, Zahnarzthelferin zu sein und für Ruhe und Ordnung in der Praxis zu sorgen, oder ob noch etwas anderes auf sie wartete. Etwas Entscheidenderes.
Ihr Freund Clive studierte in Durham. Er schrieb ihr in seiner wunderschönen Handschrift, die fast schon Kalligraphie war, er könne sich manchmal nicht auf die Bäume konzentrieren, weil er von ihrem Haar träume.
Pearl gefielen diese Briefe mehr wegen der Schrift als wegen des Inhalts. Sie genoß seine Abwesenheit. Diese war ihr lieber als seine Gegenwart, genauso, wie es ihr lieber war, an ihn zu denken, als ihn zu berühren.
Während der Heimfahrt ging die Sonne unter, und das Grün der Felder wurde seltsam weiß, als läge Reif darauf. Und in diesem Augenblick, als sich alle Farben veränderten, kam Pearl zu dem Schluß: Ich sage nein, wenn er mich fragt. Denn es ist nicht er, auf den ich warte. Ich warte auf jemand anderen oder etwas anderes.
Pearl schrieb Mary und fragte, ob sie zu Besuch kommen und eine Nacht bei ihr bleiben könne. Sie hoffte, daß ihr Mary helfen würde, einen Brief an Clive aufzusetzen, in dem sie ihm mitteilte, daß sie ihn nicht liebte und nie von seinem Haar träumte.
Bei ihnen zu Hause sprach Edward von Mary als von Martin, doch Irene hatte gesagt: »Ich kann das nicht, Edward. Ich kann das einfach nicht.«
Pearl fand, daß Mary jetzt zwischen den Namen stand. Sie selbst hatte noch die alte Mary vor Augen, die in Miss McRaes Sachen herumlief, jedoch verblaßte sie allmählich. Der neue Martin, klein und schmal und mit einem flaumigen Bart, stand wartend an der Seite. Pearl dachte: Ein Teil von mir möchte Mary so lassen – fast unsichtbar. Und ein Teil von mir möchte Martin nicht aus der Nähe sehen müssen.
Doch dann, als ihr beim Anblick eines Sternenhimmels Montgolfier und das Universum einfielen, wurde ihr klar, daß sie es nicht zulassen wollte, daß Mary verschwand, ganz gleich, in wen diese sich verwandeln mochte. Zum einen wurde sie von Mary geliebt. Zum andern schien diese so gut über die Welt Bescheid zu wissen – über griechisches, in Blätter gewickeltes Essen, über südafrikanisches Heimweh, überdie Landkarte Südostasiens, über die Geräusche, die nachts aus einem Lichtschacht aufstiegen, über die Tänze der Aborigines. Sie wußte, was Hakluyt gesagt hatte, als er in Moskau ankam. Sie hatte hundert Stunden in einem Raum verbracht, der nur von Fischen beleuchtet wurde. Sie wußte, wie man nach Twickenham gelangte.
Marys Antwort kam sehr schnell. Der Brief war auf Papier von der Liberty getippt. Sie schrieb: »Bring einen Badeanzug mit. Schon seit Jahren mache ich mir Sorgen, daß Du einmal ertrinken könntest. Ich gebe Dir jetzt Schwimmunterricht.« Der Brief war mit Mary Martin unterzeichnet. Als Irene ihn las, sagte sie: »Es gab mal eine Schauspielerin, die so hieß. Oder gibt es sie noch? Manchmal hört man ja nicht, wenn jemand stirbt, nicht wahr?«
Sie gingen zum Bad in der Marshall Street.
Pearl sagte: »Das ist das Bad, in dem Timmy immer war.«
»Ach ja?« erwiderte Mary.
Sie hatte rote, aufblasbare Schwimmflügel gekauft, durch die Pearl ihre Arme stecken mußte. Pearls Badeanzug war türkis – die Farbe des Wassers –, und im Licht des Bads sahen ihre Arme und Beine ganz weiß aus. Mary trug Khakishorts und ein schwarzes T-Shirt, unter dem sich ihre Brüste jetzt kaum noch abzeichneten. Sie sagte zu Pearl, sie solle sich auf den Beckenrand setzen und die Beine ins Wasser baumeln lassen. »Fast alle Lebewesen können schwimmen. Sogar ein Elefant. Schau ins Wasser, und stell dir vor, daß es dich trägt.«
»Das hilft nichts. Ich habe trotzdem Angst«, entgegnete Pearl.
Am anderen Ende des Beckens, das Pearl sehr weit weg zu sein schien, trainierte ein einsamer Turmspringer.
Mary stieg ins Wasser und schwamm eine Breite, dann kam sie zu Pearl zurück. Sie stellte sich vor sie hin und griff nach ihren Händen. »Pearl, sei jetzt vernünftig! Du bist mein kostbares Ding. Ich werde doch nicht zulassen, daß dir etwas passiert!«
Vorsichtig zog sie Pearl ins Wasser. Es reichte dieser etwas über die Taille, so daß ihre Haarspitzen naß wurden. Pearl zitterte und hatte
Weitere Kostenlose Bücher