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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Abend.
    Wolf lag zu Sonnys Füßen und schlief. Menschen mochten es nicht, wenn sie im Schlaf angesprochen wurden. Ihre Traumwelt war ihnen wichtiger als alles, was man ihnen sagen konnte. Doch Hunden war das verdammt egal. Sie wachten auf, liefen vielleicht ein paarmal im Kreis herum, legten sich dann wieder hin und spitzten die Ohren.
    Sonny hatte die Hand über sein verkrüppeltes Ohr gelegt. Seit Timmy weg war, schmerzte es mehr. Außerdem bescherte es ihm Träume von Timmy, wenn er darauf schlief. Er mußte daran denken und sich auf die andere Seite legen, zur blauen Wand hin.
    Sie hatten von Timmy keine Post bekommen. Es sei denn, er schrieb heimlich an seine Mutter und sie versteckte die Briefe. Monate waren verstrichen. Es war April. Die Monate waren gekommen und gegangen, ohne daß auch nur ein einziger Brief eingetroffen wäre. »Es ist unerträglich«, sagte Sonny laut zu Wolf. »Es ist unerträglich. Schlimmer als der Krieg.«
    Der Hund stand auf, schüttelte sich, ging zu seinem Napf und schlürfte Wasser. Dann kehrte er zu Sonny zurück und legte sich wieder hin, den Kopf auf seinen Füßen.
    Sonny streichelte ihn. »Ich weiß nicht, warum ich angehalten habe«, sagte er. »Ich tat es, peng, einfach so. Ich tat es, und dann war es auch schon geschehen.
    Ich hätte einlenken sollen. Ich hätte zurückfahren und den Jungen wieder aufnehmen sollen, ich hätte zu ihm sagen sollen: Steig ein, Junge, komm, steig ein!
    Ich bin schon von klein auf stur. Stolz. Niemand weiß, warum.
    Ich hätte mir denken sollen, daß mir, wenn ich das tue, nicht verziehen wird.
    Und wer kann das schon aushalten – vom eigenen Sohn keine Vergebung zu bekommen? Ich nicht. Niemand könnte das.
    Was soll man da machen? Ich kann keinen Brief schreiben. Ich weiß nicht einmal, wie man April richtig schreibt.
    Was soll man da machen, Wolf?«
    Als der Hund seinen Namen hörte, jaulte er auf. Manchmal gingen Sonny und er noch so spät in der Nacht zum Fluß hinunter, wo Sonny dann ins Wasser pinkelte.
    Sonny füllte sein Glas, das sowieso noch fast voll war, wieder bis oben hin auf. Voller Abscheu trank er einen Schluck Bier. Es wollte ihn umbringen, doch das würde er nicht zulassen.
    » Sie muß schreiben, das ist es«, sagte er. »Sie muß erklären, daß ich mich damals nicht wohl fühlte. Enttäuschung kann zu so etwas führen. Sie muß das erklären.
    Und dann wird Timmy antworten. In seinem Brief wird stehen, daß er das Land vermißt: die Ernte, die Gräben und all das, was unter dem Himmel so vor sich geht.«
    Sonny schwieg. Jetzt, da er wußte, was zu tun war, war ihm leichter ums Herz.
    Es sollte aber sofort geschehen, noch in derselben Nacht. Er ließ den Blick durch die Küche wandern, als erwartete er, Estelle darin vorzufinden. Obwohl er wußte, daß sie nicht da war, sah er sich immer wieder im Raum um.
    Er konnte sich nicht erinnern, wo sie war. Er hatte das Gefühl, daß sie nicht im Haus war. Daher stand er auf, pfiff den Hund herbei und ging, laut nach Estelle rufend, in die Frühlingsnacht hinaus.
    Sie war in Petes Bus. Er hörte sich Schallplatten an, die so alt waren, daß sie nicht mehr wie solche aussahen; sie sahen vielmehr wie etwas Knuspriges zum Essen aus. Ab und zu hielt Pete, der sich mit Estelle unterhielt, mitten im Satz inne und grinste über eine alte, unverständliche Liedzeile.
    Sie tranken Whisky. Sie machten das jetzt ziemlich oft, weil sie beide nicht recht wußten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Pete hatte seine Arbeit im Schlachthof verloren. Grace hatte ihn entlassen und zahlte ihm jetzt eine kleine Rente. Sie hatte gesagt: »Du hast 1938 deinen Anteil am Geschäft verscherzt, als du in Amerika herumgelungert bist, und jetzt hast du Probleme mit den Augen. Wir müssen mit der Arbeit aufhören.«
    Sie hatte recht, was seine Augen anging. Anscheinend war das schielende linke Auge mittels der Nase auf das rechte ausgerichtet worden; doch nun, nachdem ein Stück von seiner Nase weggeschnitten worden war, hatte es nichts, woran es sich orientieren konnte.
    Daß er seinen Job verloren hatte, war ihm egal. Wenn man es recht bedachte, war es eine furchtbare Arbeit gewesen. Wichtiger war es, am Leben zu bleiben.
    Er verbrachte viel Zeit damit, den Bus nach Dollar-Scheinen zu durchwühlen, um sie Walter zu schicken. Er hatte schon die Möbel zur Seite geschoben und in alle Schubladen, Schachteln, Dosen, Gläser und Töpfe geschaut. An vier Stellen hatte er seine Matratze aufgeschnitten.

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