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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zu haben.
    »Sie brauchen nichts zu sagen. Lassen Sie mich ein Weilchen reden, und dann können Sie weiterschlafen.«
    David Tate nahm die Brille ab und putzte sie mit seinemÄrmel. »Der Lehrplan am Teviotts ist ganz schön hart. Wenn jemand Geistlicher werden will, muß er zumindest die Bibel kennen. Die Kirche hält außerdem Latein- und – allerdings in geringerem Maße – Hebräischkenntnisse für nützlich. Das ist vernünftig und richtig. Sie verbringen hier drei Jahre. Zwei liegen noch vor Ihnen. Das ist ausreichend Zeit, um diesen Disziplinen, so gut Sie es vermögen, zu Leibe zu rücken. Auch die Kirche befindet sich an einem Scheideweg. Sie ist weltlicher und liberaler geworden, und das ist in vielerlei Hinsicht gut so. Sie hat bewiesen, daß sie in der Lage ist, sich der Versteinerung zu widersetzen und sich einem Wandel zu unterziehen. Aber...«
    Hier hielt er inne, drehte sich etwas um und sah zum Himmel. Er ließ ein paar schweigsame Augenblicke verstreichen.
    »Aber«, fuhr er dann fort, »da gibt es ein Paradoxon. Die Kirche hat danach gestrebt, sich neu zu definieren, um dem Argument zu begegnen, daß sie in diesem so unruhigen Jahrhundert keinen Bezug mehr zu den Bedürfnissen der Menschen hat. Dabei hat sie auch den Glauben neu definiert – dadurch aber zugleich seinen grundlegenden Bezug zum Leben aller Menschen unterminiert. Sie hat den Glauben auf einen Vektor gestellt und graduelle Unterschiede gemacht. Sie hat versucht, das, was man nicht messen kann, meßbar zu machen. Und das verabscheue ich. Meiner Meinung nach ist der Glaube entweder da oder eben nicht. Entweder glaubt man an die Auferstehung Christi oder nicht. Diese ist zentral für den Glauben.
    Und damit komme ich zu Ihnen, Timothy. Als wir Sie beim Auswahlgespräch vor uns hatten, tendierten meine Kollegen dazu, Sie aufgrund akademischer Defizite abzulehnen. Ich habe sie davon überzeugt, Sie zu nehmen, da ich sah, daß für Sie Gott genauso wichtig ist wie die Luft und das Wasser. Ich wußte, daß Sie mit dem Studium Probleme haben würden. Ich wußte, daß Sie bei den Examina nicht gut abschneiden würden. Doch ich wußte auch – und ich glaube nicht, daß ich mich da irre –, daß Sie ein sehr guter Geistlicher werden würden. Sie werden einer der wenigen mit einer Vision sein, und diese Vision wird es sein, die den Leuten helfen und sie trösten wird. Ich irre mich da nicht. Ich weiß das.«
    Timmy drehte sich ein wenig zu Dr. Tate um und schaute ihn an. Er sah ihn ganz ruhig, mit leicht erhobenem Kopf dasitzen, als sehe er sich im hellen Tageslicht einen Film an. Timmy wollte sagen: Sie irren sich da nicht, Dr. Tate, doch er konnte es nur denken und nicht laut aussprechen. Er konnte überhaupt nicht sprechen. Er hatte einen Virus des Schweigens.
    An seinem letzten Tag im Krankenzimmer brachte ihm die Oberin einen Brief. Er war von Estelle.
    Lieber Tim,
    warum schreibst Du mir nicht? Ich weiß, wie kinderleicht Briefe bei Institutionen eingehen und abgeschickt werden können.
    Du fehlst uns so. Ich nähe eine Fahne. Ich erzähle Dir noch mehr darüber. Sie ist mein ein und alles, mein Kunstwerk.
    Sonny hat mich angebettelt, daß ich Dir schreibe. Seit Wochen schon bettelt er.
    Ich soll Dir sagen, daß ihm das, was er getan hat, leid tut. Er wollte das nicht, er wollte Dich nicht auf der Straße stehenlassen. Wir tun oft etwas, was wir nicht tun wollen. Ich soll Dir von ihm sagen, daß Du ihm bitte verzeihen und uns besuchen sollst. Selbst ein Hund ist kein Ersatz für einen Menschen.
    Meine Fahne ist der Union Jack. Ich nähe sie ganz aus Seide. Ich muß sie zweimal machen und dann gegeneinandernähen, damit es eine wird.
    Sie ist viel größer als der Tisch. Sie ist ein Gescbenk für Colonel Bridgenorth von der Königlichen Artillerie, den ich im Mountview kennengelernt habe. Er war einmal ein Held, und jetzt hält er sich für einen Sherpa. Er glaubt, er sei auf dem Mount Everest. Er kriegt die Fahne, um sie auf den Gip fel zu setzen. Der Union Jack ist die komplizierteste Fahne der Welt. Ich muß jetzt gehen. Gleich kommt Hawaii 5-0. Ich liebe es. Ich liebe es, wenn Jack Lord sagt: »Gib’s ihm, Danno!« Das klingt so endgültig. Deswegen liebe ich es. »Gib’s ihm, Danno!«
    Bitte schreib, lieber Tim!
    In Liebe, Deine
    MUTTER
    Elm Farm
    Swaithey
    Suffolk
    Timmy faltete den Brief zusammen und legte ihn weg. Er fühlte sich noch schwach, hatte aber einen klaren Kopf. Er dachte: Keiner von uns scheint richtig im Boden

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