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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Junge« genannt hatte. Ich sagte zu ihm: »Ich möchte gern mit einem Boot hinausfahren.«
    Der Wind rüttelte an allem. Die Bäume machten einen aufgewühlten Eindruck. Sie wären gern geflohen.
    Mein Boot wurde hin und her geschüttelt. Schwäne schaukelten vorbei und sahen mich an. Sie schienen ein Ziel zu haben, ihre Bestimmung zu kennen.
    Ich legte mich im Boot auf den Boden und blickte zum Himmel. Er kam mir vollkommen leer vor, nichts als Blau, das sich in den sinnlos weiten Raum ausdehnte. Dann sah ich da oben, Meilen entfernt, etwas Weißes vorüberziehen. Ich dachte, daß es vielleicht eine Möwe oder auch Livia war, die sich in ihrem Segelflugzeug überschlug, als sie nach etwas Lebendigem oder auch Unbeweglichem Ausschau hielt, dessen sie noch nicht überdrüssig war. Sie überschlug sich immer wieder und fand es nicht. Sie fand absolut nichts.
    Ich bin ihrer nie überdrüssig gewesen. Ich wäre es auch nie geworden. Ich liebe sogar Pearls runde Schrift und ihre weißen Turnschuhe. Jedes einzelne Haar ihres Körpers. Ihre Verwunderung über Laubfrösche. Ihre Angst vor dem Wasser. Alles. Und ich weiß eins – weiß es, ohne es eigentlich zu wissen: Daß es gar nicht so selten ist, wie man meinen sollte, daß ein Mensch einfach alles an einem anderen Menschen liebt. Selten ist nur, daß es ihm Glück bringt. Es führt vielmehr zur Erschöpfung.
    Erst in der Nacht von Pearls Geheimnis erkannte ich das. Ich hatte mich der Täuschung hingegeben, daß es für mich eines Tages ein Leben als Martin, mit Pearl im Arm, geben würde. Ich hatte das nie ausgesprochen, aber immer geglaubt. Meine Zukunft hatte geheißen: Martin und Pearl, gegr. ca. 1976.
    So gesehen war es nicht allzu überraschend – jedenfalls fürmich nicht –, daß ich, als sie mir von Timmy erzählte, eine Lampe nach ihr schleuderte, dann ein Buch, die Vase mit den Kornblumen und alle meine Krankenbettkissen. Und zuletzt schleuderte ich noch etwas viel Schrecklicheres auf sie: mich selbst.
    Von der Lampe wurde Pearl umgeworfen; sie fiel auf den Boden. Die Vase landete neben ihrem Kopf und zerbrach in tausend Stücke; das Wasser ergoß sich über ihre Haare.
    Sie versuchte aufzustehen. Immer wieder rief sie: »Nicht, Martin! Bitte nicht!«, doch ich sagte, sie solle den Mund halten und ich wolle nie wieder etwas von ihr hören, es sei denn Liebesworte.
    Ich kniete mich auf sie. Mit aller Kraft packte ich ihre zarten Handgelenke und drückte sie hinter ihrem Kopf auf den Boden, mitten in die Glassplitter.
    Ich spürte, wie meine beiden Wunddreiecke aufrissen und in meine Verbände zu bluten begannen, doch ich dachte: Die Schmerzen, die Worte verursachen können, sind weit schlimmer.
    Ich öffnete den Mund und legte ihn auf Pearls. Sie versuchte ihren Kopf wegzudrehen, doch meiner folgte ihr. Und er ist so schwer wie Blei, weil er so voller Sehnsüchte ist.
    Ich küßte sie. Ich steckte meine Zunge in ihren Mund und sog all ihre Süße in mich hinein. Ich trank sie. Von der Süße meines kostbaren Dings wurde mir ganz leicht im Kopf. Ich legte meinen Schmerz auf ihre Brust. Mein Blut drang durch die Gaze und befleckte Pearl.
    Sie weinte. Sie hatte vor Kummer ein ganz heißes Gesicht. Und allmählich ging ihr Kummer, ihr brennendes Elend, auf mich über. War ich eben noch berauscht von Pearls Süße gewesen, so fühlte ich mich jetzt schwer und unbeweglich; mir brannte das Gesicht vor Scham.
    Ich hörte auf, sie zu küssen. Ich kniete zwischen ihren Beinen auf dem Boden. Sie schluchzte und legte die Hände vors Gesicht, so daß sie mich nicht sah.
    »Pearl«, sagte ich, »es tut mir leid. Es tut mir so furchtbar leid. Bitte verzeih mir. Du bist doch mein kostbares Ding...« Sie kam auf die Beine und begann ihren Koffer zu packen. Es war mitten in der Nacht. Ich wollte sie davon abbringen, jetzt zu gehen, doch sie kümmerte sich nicht um mich. Sie sagte nur immer wieder: »Ich bin kein Ding ! Ich bin kein Ding ! Ich bin kein Ding !«
    Ding. Person. Geliebte. Was zählt, ist doch nur, daß sie für mich etwas Kostbares war. Es ist nicht nur der Name, der uns lieben läßt. Es ist alles zusammen.
    Nun ist sie weg. Ich liege in meinem Boot und bitte das Universum, auf mich zu fallen und mich mit seinem eiskalten Geglitzer zu zermalmen. Doch das Universum ist nirgends zu sehen. Es ist weitergezogen.
    Ich lebe mein Leben von einer Stunde zur anderen – eine Stunde mit Sterns, eine hier draußen auf dem Wasser. Mein Boot hat die Nummer eins. Wenn meine

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