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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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C.!«
    »Der ist schon lange hier!«
    Die Pikes spielten bereits so viele Jahre miteinander Binokel, daß sie sich dabei unterhalten konnten. Bill C. erzählte Walter, daß Bentwater 1959 mit einem gestohlenen Fleischlaster nach Nashville gekommen war. Er hatte den Wagen violett umgespritzt, ihn am Fluß abgestellt und ein Jahr darin gewohnt. Dann mußte er ihn verkaufen, um sich über Wasser zu halten, und schlief auf einem Sandhaufen. Die Pikes sagten: »Er hat dafür bezahlt – und wie –, und jetzt hat er vielleicht dreimal im Jahr eine Vorstellung in der Opry. Als er herkam, hatte er eine gute Stimme, doch durch seine Sauferei geht sie ihm allmählich verloren.«
    »Lungern Sie nicht mit Bentwater herum, Walter«, sagte Audrey. »Sonst macht er Sie noch zum Säufer.«
    »Er will mich mit ein paar Leuten bekanntmachen«, erwiderte Walter.
    »Das mag schon sein, nicht wahr, Bill C.?« meinte Audrey. »Er kennt fast jeden im Musikgeschäft.«
    »Gewiß kennt er alle«, sagte Bill C., »doch das hilft ihm überhaupt nicht weiter. Alle wissen, daß er unzuverlässig ist. Alle wissen, daß er ein windiger Hund ist.«
    Walter ging in sein Zimmer und setzte sich an den Tisch am Fenster. Es war stockdunkel draußen. Er konnte nicht einmal mehr die Silhouetten der Schattenbäume sehen. Es war so still ringsumher, daß es vielleicht zu schneien anfangen würde.
    Er dachte über den Nachmittag nach. Er war mit Bentwater den Lower Broad hinuntergelaufen, an den Bars, Kleiderläden und Pfandhäusern vorbei zum Fluß, wo sie zusahen, wie unter ihnen ein Touristenschiff anlegte.
    Bentwater hatte erzählt: »Die Gründer von Nashville kamen in zwei Gruppen. Die eine übers Land, die andere über den Fluß, Hunderte von Meilen den Cumberland River herauf, immer gegen den Strom. Und so ist es auch im Musikgeschäft, Walter. Jeder, der vorwärtskommen will, hat mit der Strömung zu kämpfen. Das sind die Leute, die es bereits geschafft haben und Sie entweder raushalten, Ihnen Ihre Lieder klauen oder Ihnen sonst irgendwie schaden wollen.«
    »Ich wußte, daß es nicht leicht sein würde«, sagte Walter.
    »Es ist nicht nur nicht leicht, Kumpel«, entgegnete Bentwater, »es ist sogar verdammt schwer. Und da ist noch etwas.«
    Walter stieg vom Fluß Salzgeruch in die Nase, wie er es nur vom Meer her kannte. Er dachte: Hier ist doch nichts wie anderswo. »Noch etwas?« fragte er.
    Bentwater wandte sich ihm zu und drückte seinen Arm.
    »Nun«, meinte er, »die Sache ist doch die, Walter: Sie sind ein Unschuldslamm, nicht wahr? Sie kennen nicht den Unterschied zwischen der First Avenue und dem First Commandment, stimmt’s? Sie sind ein Country-boy, doch aus dem falschen Land. Alles in allem wissen Sie d-e-d darüber.«
    Walter sah zum Himmel, der sich violett färbte. »Was ist d-e-d?« fragte er.
    Bentwater lachte. Sein Lachen ging rasch in ein Fauchen über.
    »Doodle-ei-dip!« sagte er. »Oder mit anderen Worten: nichts! Verstehen Sie?«
    Walter war sich recht dumm vorgekommen. Eine ganze Weile lang. Dann fiel ihm etwas Merkwürdiges ein, und ererzählte es Bentwater, während die Touristen vom Flußschiff an ihnen vorbeistapften und hinter ihnen die Neonreklamen des Lower Broadway auftauchten.
    »Vor vielen Jahren ließ ich mir mal auf einer Kirmes aus der Hand lesen. Von einer Frau namens Cleo. Sie hatte künstliche Zähne und Pailletten auf dem Brillengestell. Ich lernte sie recht gut kennen, bevor sie starb.
    Sie hat etwas zu mir gesagt, was ich erst jetzt verstehe. Das heißt, ich habe es bisher wohl immer falsch ausgelegt. Sie sagte: ›Ich sehe einen Fluß.‹ Da war sie sich ganz sicher gewesen. Sie behauptete, einen Fluß würde es ganz bestimmt in meiner Zukunft geben. Ich hatte immer geglaubt, sie meine einen Fluß in England, den Alde, doch da hatte ich mich wohl geirrt. Sie meinte diesen Fluß. Den Cumberland. Sie sagte, alles in meinem Leben würde mich zu ihm hinführen.«
    Bentwater hatte aufmerksam zugehört, sich dann die Augen gerieben, als wäre er plötzlich hundemüde. »Kann sein«, meinte er, »kann aber auch nicht sein. Ich habe nie geglaubt, daß mein Leben in meiner Hand eingezeichnet ist. Mein Leben ist in mir und wartet. Sonst nirgends.«
    Das gefiel Walter. Jetzt, in seinem Zimmer unter der Hausnummer 767, dachte er darüber nach und blickte zum Fenster hinaus. Bentwater Bliss war dreiundfünfzig, hatte aber immer noch das Gefühl, daß eine große Zukunft vor ihm lag, die nur auf den richtigen

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