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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seines Stuhls und sah es sich an.
    »Ich kann mich daran erinnern«, erwiderte er. »Es ist aber nicht Livias Haar.«
    »Nein? Meine Mutter hat mir immer erzählt, es sei Livias Haar.«
    »Nein. Es ist von Sophia, Livias Mutter. Von deiner Urgroßmutter. Liv hatte es von klein auf.«
    »Wie kommt es, daß meine Mutter das nicht wußte?«
    »Wahrscheinlich hat sie es vergessen. Was wem gehört, verwischt sich im Laufe der Jahre.«
    Ich schwieg einen Augenblick, trank einen Schluck und wärmte mir die Füße. Dann sagte ich: »Livias Tod war für mich von Anfang an verwischt. Ich habe nie richtig darüber Bescheid gewußt. Wohin wollte sie denn eigentlich mit dem Segelflugzeug fliegen?«
    »Nirgendwohin.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Sie flog nirgendwohin. Sie flog einfach am Himmel ihre Kreise. Sie stieg vom Feld auf und...«
    »Von welchem Feld? Von wo?«
    »Von Ashby Cross. Vom Ashby Cross Segelfliegerclub. Ganz hier in der Nähe.«
    »Und?«
    »Sie flog eine Runde, das ist alles. Ließ sich im Aufwind hochtragen und kehrte um.«
    »Und dann?«
    »Als sie die zweite Runde drehte, sank sie plötzlich immer tiefer. Ich sah Gott sei Dank nicht zu. Nein, ich war nicht dabei. Sie verlor jedenfalls ihre Thermikblase und kam immer tiefer. Die Leute im Club sagten, sie hätte es noch schaffen können, wenn die Drähte nicht gewesen wären.«
    »Was für Drähte?«
    »Hochspannungsleitungen. Strom. Deshalb habe ich doch zu diesen Leuten im Mountview gesagt, sie sollen nicht dieses Elektrozeug mit meiner Tochter machen. Einmal hat gereicht.«
    »Sie ist in die Stromleitungen geflogen?«
    »Ja.«
    »Sie ist durch einen Stromschlag getötet worden?«
    »Ja, Kamerad.«
    »Warum hat mir das nie jemand gesagt?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Ich habe es mir ganz falsch vorgestellt.«
    »Ja? Wie hast du es dir denn vorgestellt?«
    »Ganz unmöglich: Sie schwebte zum Himmel hinauf und entschwand.«
    »Nun«, sagte Cord, »da haben wir es. Was wir uns erträumen, ist doch unweigerlich schöner, nicht wahr?«
    Wir spielten eine Partie Scrabble. Cord legte »Schweigen« auf ein Feld mit dreifachem Wortwert und verbrauchte damit alle seine Buchstaben, so daß er auf einen Schlag zweiundneunzig Punkte bekam. Wir tranken weiter. Ich hatte die Buchstaben y, a, a, x, e, t, l, l auf meinem Bänkchen und betete darum, wie durch ein Wunder das Wort »Axolotl« legen zu können, als Cord mich plötzlich ansah und sagte: »Da du nun einmal hier bist, Martin, meine ich, daß es an der Zeit ist, daß du dich mit Estelle aussöhnst.«
    Ich hielt den Blick gesenkt und schob meine Buchstaben hin und her. »Ist sie im Mountview?«
    »Nein.«
    Ich gab den »Axolotl« auf und legte statt dessen »Taxy«.
    »Was soll das werden, wenn’s fertig ist?« fragte Cord.
    »Ein Wagen. Ein Mietauto.«
    »Das schreibt man mit i«, sagte Cord. »Taxi.«
    »Nicht unbedingt«, erwiderte ich. »Man kann es auch so schreiben. Ich kann meine Mutter jetzt nicht besuchen, Cord. Bitte verlang das nicht von mir.«
    »Wann dann?«
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nie. Alle in Swaithey gehören der Vergangenheit an. Das war in einem anderen Leben und ist vorbei.«
    »Nein, ist es nicht«, entgegnete Cord. »Est gehört nicht der Vergangenheit an. Sie sitzt im Dunkeln, sieht fern und wartet.«
    »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
    »Sie will mir nicht sagen, worauf sie wartet. Vielleicht ja auf dich. Darauf, daß du ihr verzeihst.«
    » Bitte nicht , Cord! Sag nichts mehr, Schweigen, bitte sehr.«
    Da geschah etwas Schreckliches. Cord fing zu weinen an. Er sah genauso aus wie damals im Mountview, als meine Mutter sich mit ihren Haaren übers Gesicht strich.
    Ich hatte den Wunsch, den Arm um ihn zu legen, blieb jedoch einfach sitzen. Ich zog »Taxy« zurück und ließ ihn weinen.
    »Hör zu, Cord«, sagte ich schließlich. »Erzähl ihr, daß ich tot bin. Dann wartet sie nicht mehr auf mich.«
    Ich ging wieder zu Sterns.
    Ich berichtete ihm, daß sich in meinen Träumen alle, die ich einst geliebt hatte, mir gegenüber aufstellen mußten und daß ich sie dann mit einem Schnellfeuergewehr zerfetzte. Pearl zerfiel in tausend winzige Teilchen.
    »Denken Sie einmal über Folgendes nach, Martin«, sagte er. »Die Seele kann sowohl ihres inneren als auch ihres äußeren Umfelds überdrüssig werden. Ich glaube, Ihre Seele ist von beidem erschöpft. Ich möchte Ihnen empfehlen, England für eine Weile zu verlassen.«
    »Wohin soll ich denn gehen?«
    »Das spielt

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