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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Stunde um ist, ruft mir der Bootsverleiher durchs Megaphon zu: »Sie in Nummer eins, Sir, Sie müssen jetzt zurückkommen.«
    Ich wollte nicht, daß es Sommer wurde. Oder Herbst. Ich versuchte, die Zeit zu verlangsamen. Im Sommer oder Herbst – ich wußte es nicht mehr – würde mein Bruder Pearl heiraten. Bis dahin wollte ich tot sein.
    Ich saß im Büro der Liberty und zeichnete Reisfelder, weidende Ochsen und Napalmbomben, die gleich auf alles fallen würden. Ich zeichnete mich selbst anonym mit auf jedes Bild. Tony war nicht mehr da. Rob liebte ein Mädchen namens Electra. Ich sagte zu ihm: »Mir kommt es so vor, als wären wir alle in einer griechischen Tragödie.« Er erwiderte: »Mart, halte an dem fest, was du noch hast, ja?«
    Das Zorba ist geschlossen. Ich weiß nicht, wo alle hingegangen sind, Nico und Ari und die anderen. Eines Abends kam ich hin, und das Restaurant war nicht mehr da, und die Fassade war mit Werbeplakaten für Demos und Rockkonzerte beklebt. Ich stand vielleicht zehn Minuten davor und starrte darauf. Dann ging ich nach Hause, aß ein Marmeladenbrot und dachte an Irene. Am nächsten Tag sagte ich zu Rob: »Weißt du, es gibt nicht mehr viel, woran ich noch festhalten kann.« Ich zählte, was mir geblieben war. Darunter war Cord. Ich hatte ihm lange Zeit nicht mehr geschrieben, weil ich zu feige war, ihm zu sagen, was ich mit mir hatte machen lassen. Ich glaubte, mein Anblick mit meinem Bärtchen würde ihm größeren Schaden zufügen als der Anblick von ein paar Gänsen, die am Himmel einen Pfeil bildeten.
    Doch jetzt wollte ich Cord besuchen. Er war achtundsiebzig. Ich wollte ihm im Sessel gegenübersitzen, Wincarnis mit ihm trinken und mich mit ihm über die Vergangenheit unterhalten. Nicht über die Art Geschichte, wie sie Hakluyt darstellte, sondern über meine eigene. Ich wollte bis ins kleinste Detail die Wahrheit über Livias Tod wissen, wohin sie gegangen war und wie und warum. Mir war nämlich der Gedanke gekommen, daß es nicht zu spät war, Segelfliegen zu lernen.
    Ich habe noch fast das ganze Geld von Miss McRae – vielleicht hatte sie ja sogar gewußt, daß ich diese Welt verlassen mußte.
    Ich schrieb an Cord und schilderte ihm mein jetziges Aussehen. »Ich bin jetzt mehr Martin als bei meinem letzten Besuch. Ich trage eine Hornbrille wie Ringo Starr und habe einen bräunlichen Bartflaum. Meine Brust ist flach, aber narbig. Bei der nächsten Operation soll mir die Gebärmutter entfernt werden.«
    Er schrieb sofort mit seiner alten grünen Tinte zurück: »Ist es eine traurige oder eine freudige Angelegenheit? Nur das interessiert mich. Ist es schlecht, oder ist es gut?«
    Ich antwortete ihm nicht darauf. Ich nahm den Zug nach Norwich, und Cord holte mich mit seinem neuen Wagen, einem Austin Allegro, ab. Er sagte: »Ich fahre so langsam mit ihm, daß ich ihn Andante nenne.«
    Über mein Aussehen verlor er kein Wort. Ich hatte erwartet, daß er bei meinem Anblick in Ohnmacht fallen oder davonlaufen würde, ganz so, als wäre ich eine Fernstraße, dieeintraf, um den Sumpfwiesen von Gresham Tears den Garaus zu machen, doch nichts dergleichen geschah. Er meinte nur: »Martin Ward, nehme ich an?«
    Während der Fahrt im Andante fragte er: »Ist es denn nun besser so? Nur darauf kommt es an!«
    Ich blickte auf die für das südliche Norfolk typischen Heckenreihen, die teils grün waren, teils aber auch nicht, und antwortete: »Ja. Wenn man einmal davon absieht, daß es noch nicht fertig ist und eigentlich nie fertig werden kann.«
    »Nein«, meinte Cord. »Das leuchtet mir ein.«
    Ein wenig später, als wir durch Bungay fuhren, sagte er: »In unserem Innern sind wir alle etwas anderes. Der alte Varindra hat mir das erklärt. Er sagte jedoch, daß es ein Irrtum sei zu glauben, daß unser inneres Wesen ganz ausgeformt sei. Das ist einfach nicht möglich. Im Dunkeln kann nichts richtig gedeihen.«
    In Gresham Tears aßen wir dann gekochtes Rindfleisch und anschließend Mandarinen aus einer kleinen Dose. Cord war süchtig nach Mandarinen. Er meinte: »Wenn man alt wird, braucht man Süßes. Der Himmel weiß, warum. Wie dieser Dylan immer sagte, die Antwort kennt ganz allein der Wind, sonst niemand.«
    Nach dem Abendessen saßen wir dann am Kamin und zechten. Ich hatte Cord etwas mitgebracht, und zwar Livias silbernes Medaillon mit ihrer Haarsträhne. Ich sagte: »Es ist schon seit meiner Kindheit in meinem Besitz. Jetzt sollst du es haben.«
    Er legte es auf die abgewetzte Lehne

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