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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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die Schlucht von Cheddar, an einem Ort, wo jemand hingehen und Dinge sagen konnte, dieer noch nie zuvor gesagt hatte, um dann auf ihr Echo zu lauschen.
    Die Kirche von Swaithey, die nur ein einziges Buntglasfenster hatte und deren Dachsparren von Klopfkäfern aufgefressen wurden, war nicht gerade der ideale Ort, aber es waren dort merkwürdige Dinge geschehen. So war da einmal der erste Sir John Elliot, Vorfahr des jetzigen Sir John, erschienen. Er hatte am Altar gekniet, die Arme um eine junge Weide geschlungen. Und in der Kirche – dachte ich mir – konnte mich Geddis nicht abweisen. Ich gehörte zu seiner Herde.
    Ich wartete lange. Die Sonne ging unter, und der Sämann wurde blaß. Ich hatte geglaubt, Reverend Geddis würde jeden Abend seine Runde durch die Kirche machen, um sicherzustellen, daß niemand die Gesangbücher mopste oder neben dem Glockenzug Heartbreak Hotel auf einem Koffergrammophon spielte. Doch er kam nicht.
    Ich dachte: Ich warte, bis ich überhaupt kein Licht mehr hinter dem Sämann sehe, und dann gehe ich. Ich war mittlerweile sechzehn Jahre alt und hatte noch niemandem mein Geheimnis anvertraut. Ich konnte auch noch einen Tag, ja sogar noch bis Montag warten, der ein ruhiger Tag für Pfarrer war.
    Dann ging die Kirchentür auf. Ich griff nach einem Gesangbuch und hielt mich daran fest wie an einem Floß aus Kork. Ich drehte mich nicht um. Ich überlegte, ob ich die »direkte« und die »akzeptable« Betrachtungsweise durcheinanderbrachte. War ich irregeleitet? Hatte ich einen Dachschaden oder Hirntumor?
    Ich hörte eine Stimme sagen: »Mary?«
    Ich drehte mich um. Im düsteren Licht sah ich einen Kranz leuchtenden Haars. Ich glaubte, unerwartet einem Engel begegnet zu sein.
    Der Engel trug einen Eimer mit Flieder. Es war Pearl.
    Sie stellte den Eimer ab und fragte: »Was machst du denn hier so allein?«
    Ich erzählte ihr nicht, daß ich auf Reverend Geddis wartete. Ich sagte, ich sei hergekommen, um nachzudenken.
    »Worüber willst du denn nachdenken?« fragte Pearl.
    »Das weiß ich nicht. Was machst du denn hier mit dem vielen Flieder?«
    »Mum hat mich geschickt. Er soll die Kirche schmücken.«
    »Ich dachte, du wärst ein Engel.«
    Pearl kicherte. Sie hatte schon immer ein leichtes, helles Lachen gehabt. Ich fragte sie nach ihrem Schwimmunterricht. Ich hatte sie in meinen Träumen so oft vor dem Ertrinken bewahrt, daß ich ganz erschöpft davon war. Ich machte mir allmählich Sorgen, daß ich vielleicht nicht mehr genügend Kraft haben würde, wenn es wirklich einmal nötig sein sollte.
    Sie setzte sich neben mich in die Kirchenbank. Sie war elf Jahre alt und bestimmt die schönste Elfjährige auf der ganzen Welt. Sie erzählte, daß ihr der Schwimmunterricht ein Greuel sei. Sie würde zu schielen anfangen, sobald sie nur ins Wasser kam. Das gäbe es, daß die Augen abwanderten, wenn man Angst hatte.
    Sie schob ihren dünnen, kleinen Arm durch meinen und sagte: »Du kommst uns nicht mehr oft besuchen, Mary.«
    »Ich weiß«, erwiderte ich.
    »Warum nicht?«
    Ich sagte, daß ich so viele Hausaufgaben aufbekäme und daß sie auch so hart würde arbeiten müssen, wenn sie in die Weston Grammar School ginge. Sie meinte, das habe sie nicht vor. Schon von klein auf habe sie den Wunsch gehabt, Zahnarzthelferin zu werden. Sie würde gern ein weißes, gestärktes Häubchen tragen und die violette Tablette in den Wasserbecher werfen. Ich entgegnete: »Ein höchst merkwürdiger Wunsch für einen Engel«, und wir lachten beide, und als ich dann aufsah, bemerkte ich, daß vom Sämann nur noch leere Bleiumrisse zu sehen waren und wir im Stockdunkeln saßen.
    Ich mußte eine Woche warten, bis Geddis in die Kirche kam. Außer am Sonntag ging ich jeden Tag nach dem Abendessen hin. Ich nahm eine Rolle Japanpapier und ein paar Bleistifte mit und begann eine Pauszeichnung von der Messinggrabtafel des ersten Sir John Elliot, Träger des Hosenbandordens, 1620-1672, anzufertigen.
    Als ich dann Geddis schließlich eintreten sah, sagte ich: »Sie kommen nicht allzuoft hierher, nicht wahr?« Das klang, als wären wir auf einer piekfeinen Party, so wie sie bestimmt Ranulf Morrit mit Speisen von Ramona, der spanischen Köchin, zu geben pflegte.
    Geddis fragte: »Mary Ward, nicht wahr?«
    Er fuhr fort, daß wir, wenn ich Persönliches mit ihm zu besprechen hätte, in die Sakristei gehen könnten, wo wir nicht gehört werden würden. Ich sah mich in der Kirche um, doch außer uns war niemand da. Ich dachte: Das ist

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