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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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doch eine Farce. Und mir fiel ein, daß meine Mutter dieses Wort im Mountview gebraucht hatte. »Die Mahlzeiten sind eine Farce«, hatte sie verkündet, und Cord war neben ihr niedergekniet und hatte »Aber nicht doch, Est!« gesagt.
    Ich erklärte Geddis, daß ich es mir anders überlegt hätte. Ich wolle doch nicht mit ihm sprechen. Er sah erleichtert aus. Hinter seinem Kopf mit den dünnen Haarbüscheln welkte das Blumenarrangement aus Flieder und Tulpen, weil es kein frisches Wasser bekommen hatte.
    Ich wußte, daß ich in der Sakristei Timmys Chorrock am Haken hätte hängen sehen. Und daß es dort kein Echo gegeben hätte.
    Ich zeigte Reverend Geddis meine Pauszeichnung von Sir John, die erst halb fertig war, und sagte: »Ich hätte nur noch eine Frage, bevor ich gehe.«
    Er legte seine Hände übereinander. »Immer gern bereit...«
    »Meinen Sie, daß es vorkommt, daß ein Mann, Sie zum Beispiel, glaubt, daß er in seinem tiefsten Wesen nicht ein Mann, sondern eine Frau ist?«
    Geddis fielen die Mundwinkel herunter. Ich stellte mir vor, wie er sich eine Hostie in den Mund steckte.
    Er fummelte nach einem Taschentuch und bedeckte damit unter dem Vorwand, sich die Nase zu putzen, sein ganzesGesicht. Durch das Taschentuch hindurch sagte er, daß derartige Fragen der schmutzigen Phantasie entsprängen. »Ich kann mir nur vorstellen, daß du die News of the World gesehen hast.«
    »Ich meine es nicht wörtlich«, sagte ich. »Ich will keine direkte Antwort. Ich meinte nur, ob es wohl möglich ist, daß ein Mann dies – Heilige haben ja auch manchmal Merkwürdiges gefühlt – in einer Art Vision empfindet?«
    Er schüttelte heftig den Kopf. Von der einen Seite zur anderen. Und noch einmal von der einen Seite zur anderen. Er sagte, es würde eine Gebühr für das Abpausen von Messingtafeln erhoben. Fünf Shilling für jede Pauszeichnung. Für die Dacherneuerung.
Immer an einem Ort
    An einem späten Septemberabend sah Thomas Cord einen Gänseschwarm in perfekter V-Formation über Gresham Tears fliegen. Zunächst fühlte er sich von dem Anblick bewegt (Diese makellose Anordnung in der Luft!), dann verwirrt (Kommen oder gehen sie? Anflug oder Abflug? Er wußte es nicht).
    In der Nacht fand er lange keinen Schlaf. Er hatte ein Zittern im linken Auge. Er dachte an seine Flitterwochen in Brighton: Livia im Taftkleid beim Tanz im Grandhotel; ein Spaziergang mit Livia am Kieselstrand – es war rutschig und glitschig, und die Steine klimperten in der Brandung wie Münzen in der Hosentasche. Er suchte Trost in der Erinnerung an seine Liebe.
    Um sieben Uhr wachte er auf. Ihm kam es so vor, als hätte er überhaupt nicht geschlafen, und doch war er von etwas aufgewacht, das Schlaf gewesen sein mußte. Das Zittern in seinem Auge war nicht verschwunden, sondern hatte sich auf der linken Gesichtshälfte bis zum Kiefer ausgebreitet. Er hob die Hand zur Wange. Er wußte, daß etwas Merkwürdiges mitihm geschehen war. Als er seinen wollenen Morgenrock anzog und ins Bad ging, flüsterte er vor sich hin: »Verdammt noch mal, ich bin zu lange an einem Ort geblieben, das kommt nun davon. Und jetzt bin ich zu alt, um noch wegzugehen.«
    Im grauen, von Norden einfallenden Licht des Badezimmers sah Cord, daß sich seine linke Gesichtshälfte, die zitternde, auf unbegreifliche Art und Weise verändert hatte. Sie war heruntergezogen worden oder aber hatte sich plötzlich geweigert, oben zu bleiben. Was immer die Ursache war, sie war jedenfalls heruntergefallen. Sein Augenlid hing herab wie eine abgestürzte Markise. Die eine Seite seines Mundes krümmte sich von der anderen weg. Er erkannte sich im Spiegel des Badezimmerschränkchens selbst nicht mehr wieder. Er dachte: Die Gänse kamen und gingen, sie sind jetzt kilometerweit entfernt und fressen irgendwo auf einem Stoppelfeld, und mich haben sie als Wrack zurückgelassen.
    Cord fühlte sich schockiert und elend. Er setzte sich auf den Badezimmerhocker, der auch als Wäschekorb diente und in den Livia vor vielen Jahren ihre seidenen Spitzenhemdhöschen und winzigen Büstenhalter geworfen hatte. Er stützte sein verändertes Gesicht in die Hände. Er war nicht gerade ein eitler Mann.
    Nach einer Weile ging er die Treppe hinunter und rief den Arzt an. Es hieß, er solle in die Praxis kommen. Er erklärte der Sprechstundenhilfe, daß er aus Gründen, die er nicht nennen könne, nicht in der Lage sei, das Haus zu verlassen. Es handle sich aber um eine dringende Angelegenheit. Sonst würde er

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