Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
gut voran. Hast Du schon einmal Bleakhaus gelesen?« – »Lieber Cord, Du fehlst mir. Ich bin noch immer bei Miss McRae, und wir lesen abends oft König Lear . Ich bin dann Lear. Miss McRae ist Regan und Goneril. Dann bin ich Edmund, Miss McRae Gloucester. Keiner von uns beiden will Cordelia sein.« – »Lieber Cord, vielen Dank für das Geld für das Transistorradio. Ich werde sofort eins besorgen. Ja, in gewisser Hinsicht mag ich die Beatles. Mir würde es auch gefallen, aus Liverpool zu kommen und ein Star zu werden. Ich habe aber nur mit Messingrubbeln angefangen.« Also setzte sich Cord nun hin und schrieb:
Mein lieber alter Martin,
bei dem vielen Schnee mußte ich an Weihnachten denken. Wußtest Du, daß Deine Großmutter Livia Baumschmuck aus Pferdehaar hergestellt hat? Ich muß irgendwo noch ein paar Pferdehaarengel haben.
Fährst Du Weihnachten nach Hause? Oder willst Du es mit Goneril verbringen? Ich würde mich sehr freuen, wenn Du nach G. Tears kommen würdest. Und wie sehr!
Ich fühle mich schrecklich bedrückt. Kriege nie jemanden zu Gesicht. Kommst Du? Wir könnten einen Kapaun mit Kastanien füllen, ein paar Papierketten basteln und Rommé spielen. Wir könnten Hamlet laut lesen, wenn Du Lust dazu hast, und ich lasse Dich dann Hamlet sein.
Ziehen Gänse im Winter fort oder kommen sie? Du weißt so etwas bestimmt. Bitte schreibe Deine Antwort, a) zu Weihnachten und b) zum Zug von Wasservögeln.
In Liebe von Deinem Großvater
Cord
Cord machte eine Einkaufsliste. Als es zu tauen anfing, fuhr er mit dem Hillman Minx nach Norwich, parkte den Wagen am Marktplatz und lief blind mit seiner Lesebrille umher, den Blick auf Schaufenster gerichtet, auf der Suche nach etwas, was Martin gefallen würde. Aus einigen Läden drang BeatlesMusik. Niemand starrte ihn an – jedenfalls nicht, soweit er es erkennen konnte. Er wurde wieder ein wenig er selbst.
Er ging in ein Sportgeschäft und sah sich einen Skianorak mit Pelzbesatz an. Er sagte zu der Verkäuferin: »Meine Enkelin ist in allen Sportarten gut.« Und er dachte, daß dies vielleicht etwas war, was Martin Ward mehr als alles andere in ihrem bisherigen Leben gefallen würde – mit der Drahtseilbahn einen Berg hinaufzufahren und auf Skiern hinunterzufliegen, der Gefahr trotzend. Und er wünschte sich, ihr das geben zu können, die Chance, einen Berg hinunterzusausen, und die Möglichkeit, über England hinauszublicken und eine andere Welt zu sehen. Denn es verunstaltete einen, wenn man immer an einem Ort blieb. Das Augenlid ermüdete vom ständig gleichen Anblick und weigerte sich dann, diesen sehen zu lassen. Die Mundwinkel fielen schmollend herunter. Das sah man ja jetzt.
Livia hatte das gewußt. Sie hatte ihr Geld für Kleider und Koffer ausgegeben. Auf Spaziergängen konnte es sein, daß sie plötzlich den Kopf zurückwarf und sehnsüchtig zum Himmel schaute. Sogar an grauen Tagen, wenn sich die Sonne nicht blicken ließ.
8. Kapitel
1963
Estelle:
Die Welt existierte noch an Weihnachten.
Wir schienen nicht gestorben zu sein. Die Atombombe war anscheinend nicht gefallen.
Alice, die Hühnerfrau, schickte mir eine Postkarte vom Sand von Whitby. »Puh«, schrieb sie, dreimal unterstrichen, »ich glaube, mein Hof ist sicher.«
Ich sah im Fernsehen, wie alles kam. Ich hatte gar nicht gewußt, daß Kuba in der Nähe von Amerika war. Ich dachte, es sei meilenweit von allem entfernt, draußen in einem eigenen Meer.
Einen Monat lang glaubten wir, das Ende der Welt sei gekommen. Niemand wußte, wo die erste Atombombe fallen würde und wie lange etwas am Leben bleiben konnte, wenn sie gefallen war. Wir hatten keine Ahnung, ob der Weizen kaputtgehen würde. Wir stellten uns eine Wolke vor, die sich ausbreitete. Ich sagte zu Irene: »Ich habe noch nie gewußt, was in gewöhnlichen Wolken ist, warum es sie gibt und warum sie nicht herunterfallen.« Irene erwiderte: »Männer können so etwas besser begreifen.«
Ich versuchte, eine Aufstellung all dessen, was es in England gab, zu machen. Ich begann mit den Kirchen. Dann kamen die Steine, aus denen die Kirchen gebaut sind. Dann das Holz, aus dem die Dächer, das Chorgestühl und die Kirchenbänke hergestellt sind. Dann die Bäume, die geschlagen worden waren,um das Holz zu liefern. Dann die Anzahl der Lebensjahre der Bäume. Und dann, als letztes, alles, was in den Kirchen war, die Gesangbücher und Betkissen und Taufsteine und Glockenseile und Kreuze und Kerzenhalter und handschriftlichen
Weitere Kostenlose Bücher