Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
seine Feinde respektiert.«
Neben mir saß Lindsey. Sie trug rosa Nagellack in der Schule und roch nach Blumen und Milch. Ihre Haare wurden von einem Band aus Schottenstoff zusammengehalten. Ich ließ mich aber von ihrer Nähe nicht ablenken oder einschüchtern, sondern stand auf und sagte: »Es gibt noch eine andere Definition von ›guter Führer‹, über die wir hier nicht gesprochen haben, und deshalb habe ich Hitler erwähnt. Diese Definition ist die direkte.«
»Jetzt reicht es, Marty. Danke. Du kannst dich wieder setzen.«
»Ich möchte nur darauf hinweisen, Miss Gaul, daß...«
»Setz dich, meine Liebe. Du bist vom Thema abgeschweift, und es ist sehr wichtig, daß ihr lernt, daß Randdiskussionen reine Zeitverschwendung sind und nur dazu dienen, die Zuhörer zu verwirren. Nun, Lindsey, du hast nicht viel dazu geäußert. Vielleicht kannst du uns jetzt mal sagen, wen du für einen guten Führer hältst, und dann können wir zur Zusammenfassung kommen.«
Ich setzte mich. Meine Füße brannten an den Stellen, mit denen sie den Boden berührt hatten. Lindsey, die mich, wie die anderen im Raum, nicht ansah, sagte: »Nun, ich würde Sir Winston Churchill wählen«, und Miss Gaul nickte und faltete die Hände wie zum Gebet, und schwacher Beifall wurde laut.
An diesem Abend dachte ich über das große Schweigen nach, das sich über das Klassenzimmer gelegt hatte, als ich das Wort »Hitler« ausgesprochen hatte. Miss McRae hatte mich nicht darauf aufmerksam gemacht, daß direkte Antworten – wenn sie unerwartet kommen – Furcht und Widerwillen hervorrufen können. Sie hatte erwartet, daß ich selbst darauf kommen würde.
Jetzt kam ich darauf, und es half mir, noch etwas anderes zu erkennen. Meine eigene direkte Antwort in einer Debatte mit dem Thema »Wer bin ich?« lautete: »Martin Ward. Ein Junge.« Die vorgegebene Antwort, diejenige, die jeder kannte und erwartete, hingegen war: »Mary Ward. Ein Mädchen.« Noch nie in meinem sechzehnjährigen Leben hatte ich es gewagt, die direkte Antwort zu geben, da ich befürchtete, verabscheut zu werden. Ich hatte versucht, es Miss McRae zu sagen, war dann aber im letzten Augenblick vor meinen eigenen Worten davongelaufen. Es reichte mir, von meinem Vater gehaßt zu werden. Ich war zu feige zu riskieren, von der ganzen Welt gehaßt zu werden, zu erfahren, wie es rings um mich her still wurde und eine autoritäre Stimme zu mir sagte, ich solle mich setzen.
Über manche Dinge spricht man nicht, und dies war eines davon. Ich dachte an Miss Gauls herunterspringenden Zopf.Ich dachte daran, wie Lindsey von den verschnörkelten Initialen R.M., die sie auf ihre Diskussionsnotizen gekritzelt hatte, aufgeschaut und mich entsetzt angeblickt hatte. Und dann dachte ich, daß ich es vielleicht einem Fremden erzählen könnte, jemandem, der keine Ähnlichkeit mit einem Baum hatte, nicht nach Blumen duftete, nicht Kricketschläger herstellte und nicht im Dunkeln saß und sich Fanny Cradock anschaute. Jemandem, der unparteiisch war. Jemandem, dessen Abscheu und Furcht keinerlei Bedeutung für mich hatten.
Meine Wahl fiel auf den Pastor von Swaithey, Reverend Geddis. Er war jemand, den ich nie hatte kennenlernen wollen, so daß er jetzt unter die Kategorie »Fremder« fiel. Außerdem war er ein Mann, der mich an eine Frau erinnerte. Er hatte eine sanfte Stimme und hielt seine weißen Hände sehr still.
Ich wählte einen Freitag abend. Ich hoffte, daß da keine Chorprobe stattfinden würde. Miss McRae und ich hatten Hackfleisch mit Möhren gegessen und als Nachtisch Bratäpfel. Es war Anfang Mai. Miss McRae hatte Dickens’ Klein Dorrit zu Ende gelesen und begann nun sein Bleakhaus . Sie hatte am Morgen eine Schwalbe im Sturzflug über das Vogelbad fliegen sehen und gesagt: »A.E. Housman liebte Schwalben. Sie gaben ihm Hoffnung.«
Ich ging in die Kirche und nahm in einer der Bänke Platz. Ich dachte an Ernie Loomis’ Beerdigung, bei der alle seine Schwestern geweint hatten und Walter einen verlorenen Eindruck gemacht hatte, wie ein Panda im Zoo. Ich sah auf die bunten Lichtstreifen, die durch das Fenster des Sämanns drangen, das so hieß, weil es die Parabel des Sämanns darstellte, dessen Worte auf Stein gefallen waren.
Ich wollte nicht im Pfarrhaus, in einem ordentlichen Zimmer mit dreiteiliger Sitzgarnitur und Schonern auf den Sesseln mit Geddis sprechen. Ich wollte an einem Ort sein, an dem man sich ungewöhnliche Ereignisse vorstellen konnte, wie das Wembley-Stadion oder
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