Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
den Arzt ja überhaupt nicht bemühen. Man ließ ihn warten. Er war froh, daß ihn beim Warten niemand sah. Die Sprechstundenhilfe kam ans Telefon zurück und informierte ihn knapp, daß der Arzt mittags, nach der Morgensprechstunde, kommen würde.
Der Arzt untersuchte ihn. Es war inzwischen ein schöner Tag geworden, und der Himmel hatte die blaue Farbe von Vogeleiern. Unter anderen Umständen wäre Cord vielleicht imGarten gewesen und hätte das erste Herbstlaub zusammengerecht.
Der Arzt horchte sein Herz ab. Er zwickte Cord in die Wange, um zu sehen, ob Gefühl darin war. Er zog das heruntergefallene Augenlid hoch und leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Auge. Es war Cord unangenehm, das Gesicht des Arztes so nah vor seinem zu haben. Er dachte: Wie ekelhaft und selbstgefällig Ärzte doch sind! Er sehnte sich danach, wieder allein zu sein und mit seinem schrecklichen, veränderten Leben ohne neugierige Blicke oder Einmischung zu beginnen. Er wußte, daß er einen Schlaganfall erlitten hatte.
Doch dann überraschte ihn der Arzt. Er sagte, er habe zuerst an einen Schlaganfall gedacht, neige jetzt jedoch wegen des normalen Aussehens seiner Pupille mehr dazu zu glauben, daß es sich um eine reaktive Lähmung handle. Diese sei manchmal irreversibel, manchmal aber auch ein vorübergehendes Syndrom. Man könne nicht sagen, welche es hier sei.
Cord starrte den Arzt mit seinem gesunden Auge an. Schon als Kind hatte er es nicht gemocht, wenn man in ihm falsche Hoffnungen erweckte. Er fragte: »Wollen Sie damit sagen, daß das wieder in Ordnung kommen könnte?«
»Ich will damit sagen«, antwortete der Arzt, »daß es sich manchmal um eine vorübergehende Lähmung handelt, manchmal aber auch nicht.«
»Und Sie können nicht sagen, welche es in meinem Fall ist?«
»Nein. Das kann ich nicht. Ich schicke Sie für weitere Tests nach Ipswich.«
Als der Arzt gegangen war, fiel Cord wieder das Wort »reaktiv« ein. Er hatte danach fragen wollen. Worauf hatte die linke Seite seines Gesichts reagiert? War es auch nur ein einziges Mal in der Geschichte der Medizin vorgekommen, daß ein Mann von einem vorüberziehenden Gänseschwarm gelähmt worden war?
Es wurde Winter, ein recht grimmiger im Umkreis von Gresham Tears, der die Ruheständler vom Tee im Le Touquet träumen ließ.
Jeden Morgen stand Cord auf, zog seinen kirschroten, wollenen Morgenrock an und begab sich ins Badezimmer, wo er sich im Spiegel des Badezimmerschränkchens betrachtete. Und jeden Morgen, wenn er festgestellt hatte, daß sich sein Gesicht nicht verändert hatte, kehrte er ins Schlafzimmer zurück, zog den Morgenrock wieder aus und ging noch mal ins Bett, wo er dann dalag, einfach so dalag, und versuchte, nicht zu denken und nicht zu sein.
Er hatte sich einen zweiten Radioapparat gekauft. Man hatte ihm gesagt, daß es ein Transistorradio sei. Es war so klein wie eine Souvenirschachtel und paßte gut auf seinen Nachttisch. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um es anzustellen. Anstatt den lokalen Sender zu hören, wie er es immer getan hatte, bewegte er jetzt den Zeiger über die Skala, so daß er verschiedene Sender reinbekam, illegale von Schiffen auf dem Kanal und andere aus Luxemburg oder Monte Carlo. Alle brachten Lieder der Beatles. Cord kannte schon einige Texte.
Er kam mit niemandem zusammen. Bridge und Schach interessierten ihn nicht mehr. Sein gelähmtes Auge weinte leise vor sich hin. Wenn er zum Einkaufen ins Dorf ging, setzte er die Lesebrille auf. Dann vermochte er zwar die Preise auf den Dosen und Packungen im Lebensmittelladen abzulesen, doch den Inhaber selbst sah er nicht, so daß er sich der Illusion hingeben konnte, daß der ihn auch nicht sah. Auf diese Weise verhungerte er nicht.
Anfang Dezember fiel Schnee. Cord hatte seinen Schnurrbart sehr lang wachsen lassen. Eine Fotografie der Beatles in der Radio Times hatte ihn auf diese Idee gebracht. Der Schnurrbart verdeckte fast ganz den heruntergefallenen Teil seines Mundes. Er blickte in den Schnee hinaus und kam zu dem Schluß, daß er eins tun würde – aber nur dieses eine –, um seine Einsamkeit zu verringern: Er würde Martin einladen, Weihnachten bei ihm zu verbringen.
Er hatte Briefe von einer neuen Adresse in Swaithey erhalten. »Lieber Cord, ich bin jetzt vorübergehend bei meiner ehemaligen Lehrerin, Miss McRae. Sie hilft mir sehr bei meinen Vorbereitungen auf die Abschlußprüfung.« – »Lieber Cord, ich bin noch immer bei Miss McRae und komme mit meiner Arbeit
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