Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
wenn er aus seinen Träumen aufwachte. Es war geradeso, als hätte er die ganze Nacht neben Walters Kopf gesessen. Grace, die ihm früh um sechs eine Tasse Tee ans Bett brachte, rümpfte die dünne Nase und sagte: »Es stinkt hier, Walter. Du solltest das Fenster öffnen und lüften.«
Selbst im Laden streifte ihn ab und zu dieser Todeshauch. Nach dem Abendessen ließ er dann nach, und am späteren Abend war er fast verschwunden, doch er tauchte wieder auf, wenn Walter schlief.
Erst nach vielen Wochen merkte er, daß der üble Geruch aus seinem eigenen Mund kam.
Er hatte Angst. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, und sein Atem roch wie ein Leichnam, und er wußte nicht, warum.
Eines Tages traf er um die Mittagszeit Sandra auf der Straße. Sie schob einen marineblauen Kinderwagen, in dem ihr Baby Judy lag. Sandra blieb stehen, lächelte Walter an und lud ihn ein, einen Blick auf Judy zu werfen, als wäre dies ein besonderes Privileg, das sie nur ganz wenigen gewährte. Walter war nicht an Babys interessiert, hielt es aber für unhöflich, die Einladung abzulehnen. Also beugte er sich über den Kinderwagen. Er filterte seinen Atem mit den Fingern. Das Baby trug ein lachsfarbenes Häubchen. Walter fand es häßlich, es sah wie eine Garnele aus. »Ist sie nicht süß?« fragte Sandra. »Sie ist ja dein Kind«, sagte Walter. »Da ist es ja wohl nicht anders zu erwarten.«
Sandra war blau-weiß angezogen – blaues Kleid, weißer Kragen und weiße Manschetten, wie eine Krankenschwester. Ihre Brüste waren groß, und ihr einstmals langes Marmeladehaar war kurz geschnitten. Die Sandra, für die er das Lied geschrieben hatte, gab es nicht mehr. Er konnte auch ihr neues Lächeln, das so smart und selbstgefällig wirkte, nicht ausstehen. Er überlegte, wie er es zum Verschwinden bringen könnte. Während er mit ihr sprach, hatte er Blutgeschmack im Mund. Er sagte: »Auf Wiedersehen, Mrs. Cartwright. Es war mir ein Vergnügen, Sie zu treffen.«
In der darauffolgenden Nacht verschonte ihn Arthurs Geist. Eine Zahnarzthelferin mit gestärkter Haube leuchtete ihm mit der Taschenlampe in den Mund. Walter dachte an die Schmerzen, die ihm einmal das Jodeln bereitet hatte, und an seinen Traum, Lieder zu schreiben und nach Tennessee zu gehen. Und er dachte daran, wie er Gilbert Blakey aufgesucht hatte und wie dessen Helferin mit steinernem Blick neben ihm gekniet hatte.
Als er um sechs Uhr geweckt wurde, hatte er den Mund so voller Blut, daß er seiner Mutter keinen guten Morgen wünschen konnte. Sie stellte den Tee ab und sagte: »Dieser schreckliche Geruch, Walter! Ob es vielleicht deine Zähne sind?«
Er betrachtete seine Mundhöhle in dem kleinen Plastikspiegel an der Badezimmerwand. Er stülpte die Lippen um. Die arme Cleo hatte nach dem Inspizieren seines Gesichts durch ihre mit Pailletten besetzte Brille einmal gesagt, er habe einen ganz reizenden Mund. »So rosa, mein Süßer.«
Doch jetzt war er nicht mehr reizend. Sein Gaumen hatte die Farbe von Arthurs Schwanz. Er war aufgequollen. Es war geradeso, als würde sein Mund sterben, während der Rest von ihm weiterlebte. Er hatte Sandra nie geküßt. Er hatte aufgegeben.
Er bat Grace, Blakey anzurufen. Sie saß in ihrer Kabine, wählte die Nummer und ließ ihn nicht aus den Augen.
Er machte eine Ente bratfertig und dachte: Natürlich will sie nicht, daß ich mir die Finger abschneide, aber was will sie denn eigentlich? Ein Enkelkind, das wie eine gekochte Garnele aussieht? Daß es den Namen Loomis noch in der stillen Zukunft gibt?
Die Weltkrise hatte Gilbert Blakeys Geisteslandschaft verändert.
Nach Kuba, als er verstanden hatte, daß es durchaus möglich war, daß die Natur ihn sterben ließ, bevor sie ihm zu lieben erlaubt hatte, begann er die Erbärmlichkeit seiner eigenen Zurückhaltung zu empfinden.
Er hatte geglaubt, die Erde würde sich auftun und er würde den Boden unter den Füßen verlieren, wenn er seinem Begehren nachgäbe. Nun erkannte er, daß nichts beständig war, nicht einmal im Himmel. Daher ließ er seinen Träumen breiteren Spielraum. Sein Verhalten gegenüber seinen männlichenPatienten veränderte sich ein wenig, nur so sehr, daß seine neue Helferin nichts bemerkte. Lediglich seine Finger blieben etwas länger in ihren Mündern. Und er sprach schmeichelnd auf sie ein.
Er sagte zu seiner Mutter, daß er glaube, daß sich auf die eine oder andere Art etwas ändern werde. Er erwähnte dies leichthin, als machte er eine unpräzise
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