Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Wettervorhersage. Margaret Blakey beachtete es kaum. Ihr fiel nur auf, daß ihr Sohn jetzt öfter voller Entschlossenheit aus dem Fenster sah. Sie meinte: »Ich hoffe, du hast dich nicht überarbeitet, Gilbert. Du schaust müde aus.«
Gilbert hatte keine Ahnung, wann es zu dieser Veränderung in seinem Leben kommen würde. Er konnte es nicht planen, ihm fehlte der Mut dazu. Er glaubte jedoch, daß etwas geschah. Er dachte: Wenn die Welt ihr Ende mit so wenig Bedauern hinnehmen kann, dann kann ich auch einen Mann treffen, den ich umarmen kann, ohne deswegen gleich zu sterben. Und er wußte, daß er den Mann, wenn er ihn sah, erkennen würde.
Walter fuhr mit dem Fahrrad zu seinem Termin bei Gilbert Blakey. Die Bohnen auf dem Feld blühten. Es war ein außerordentlich milder Spätnachmittag. Seit er Todesgeschmack im Mund hatte, war Walter empfänglicher für den Duft der Erde geworden.
Er hatte keine Angst. Er glaubte fest, daß es für das, was er hatte, ein Heilmittel gab, was immer es auch sein mochte. Er pfiff beim Radeln vor sich hin. Er war voller Zuversicht.
Gilbert erinnerte sich sofort an ihn, als er ihn sah – das war der junge Mann, der in Ohnmacht gefallen war. Er erinnerte sich an seine vollen Lippen und die Hitze seines schweren Kopfes. Er trocknete sich seine schmalen Hände ab. Er bemerkte, daß Walter wieder sehr erhitzt aussah, und lächelte ihn an, sein Eden-Lächeln mit den vorstehenden Eckzähnen. Dann fragte er ihn nach dem Grund seines Besuchs.
Walter wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte. Er saß verwirrt unter der Miralux-Lampe. Beinahe hätte er dem Zahnarzt von Arthurs nacktem Geist, ja sogar von Sandra, ihrem Tierarzt und ihrem Garnelenbaby erzählt, da er wußte, daß dies alles irgendwie damit zu tun hatte, daß er jetzt hier in diesem Lederstuhl saß, der rauf- und runtergepumpt werden konnte. Er hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Die Anwesenheit einer anderen Zahnarzthelferin, die sehr dick war und mit ihrem gestärkten Kittel raschelte, hielt ihn davon ab, von seinen Heimsuchungen zu quasseln. Er beschrieb nur sein Bluten.
Gilbert wählte eine Periodontalsonde aus. Er drückte die Kopfstütze des Stuhles zurück. Walter hatte einen resignierten, flehenden Ausdruck in den Augen. Gilbert legte ihm einen Finger zärtlich auf die Unterlippe. »Bitte aufmachen«, sagte er.
Erst dann nahm er Walters teuflischen Atem wahr.
Er sprach freundlich und langsam mit ihm, wie mit einem Ausländer, der ihn vielleicht nicht gut verstand. Er erklärte Walter, daß sich, wenn ein Mund vernachlässigt wurde, Essensreste in der winzigen Lücke zwischen Gaumenrand und Zahnoberfläche, die man Zahnfleischspalte nannte, ansammelten. »Damit nimmt der Verfall seinen Anfang. Es entsteht Zahnstein, der den Gaumen reizt und entzündet, so daß die Zähne darin ihren Halt verlieren und sich eine ›Tasche‹ bildet, in der sich noch mehr Essen ansammeln und zersetzen kann. Der Zahnstein ist rauh und hat gezackte Ränder. Zusammen mit bakteriellen Giften verursacht er Geschwüre im Kiefer, der dann schon bei der kleinsten Berührung blutet. Wenn jetzt nicht schnell die Behandlung einsetzt, zerstört die Zahnfleischerkrankung Teile des Kiefers, und die Zähne lockern sich zunächst und fallen dann schließlich aus.«
Walter hörte zu. Er war erleichtert, daß es Substantive und Verben gab, um seinen Zustand zu beschreiben. Und er dachte: Deshalb habe ich so gern Lieder geschrieben. Ichkonnte Dinge, von denen ich vorher gar nichts gewußt hatte, mit Worten beschreiben.
Er blickte zu Gilbert auf, sah seinen weißen Mantel, sein helles Haar und sein beruhigendes Lächeln. Er fragte ihn, was zu tun sei, und bekam zur Antwort, daß seine Zähne abgeschliffen und poliert werden müßten, um den Zahnstein zu entfernen. Zum Spülen seines Gaumens erhalte er ein Mundwasser, und er würde in ein paar Grundregeln der Zahnhygiene eingeweiht werden. Der Heilungsprozeß würde genau kontrolliert werden. Er müsse drei oder vier weitere Termine ausmachen...
Gilbert tauschte die Zahnfleischsonde gegen das Schleifgerät aus. Er hielt Walters Mund mit der linken Hand offen, dessen Kinn ruhte in seiner Hand. Sein Daumen wurde von Walters Blut ganz klebrig.
Gilbert dachte: Jetzt weiß ich, was ich tun werde. Ich werde mir ein teures Auto kaufen. Dann lade ich den Teufel zu einer Spritztour ein. Eine Hand werde ich am Steuer haben, die andere auf dem Bein dieses Teufels. Ich werde spüren, wie mir die
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