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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Blumengießpläne, die überall am Eingang hingen. Ich machte keinen Versuch, die Gebete, Lieder oder Atemzüge zu zählen. Ich konzentrierte mich auf Sachen und auf die Zeit. Und ich bekam so riesige Summen, daß mein Gehirn nicht mehr in der Lage war, sich Steinbrüche und Wälder und Jahreszeiten vorzustellen, sondern nur noch Zahlen vor Augen hatte. Und so macht es jetzt wahrscheinlich Chruschtschow, dachte ich. Er hat aufgehört, Amerika zu sehen, es sich vorzustellen. Er vergißt absichtlich, daß es Autos gibt, die Oldsmobiles heißen, daß die Leute an Jubeltagen Konfetti aus den Fenstern werfen und daß Doris Day eine reizende Frau ist. Er blickt auf Landkarten, Linien, Namen, Symbole und Höhenzahlen. Vielleicht hat ihm auch jemand erzählt, daß es allein in Los Angeles mehr als eine halbe Million Rasensprenger gibt, und die sieht er nun vor sich. Er steht im Kreml am Fenster, einem Fenster, das ich in der Tagesschau gesehen habe, und sagt laut auf russisch: »Ich werde lediglich eine Anzahl Rasensprenger bombardieren.«
    Doch es traf nicht ein.
    Sonny nahm sich einen Bauarbeiter. Er sagte, er würde uns einen Atombunker bauen. Ich mußte Vorräte einkaufen – getrocknete Birnen und Rosinenpäckchen. Während er sich auf den Bunker konzentrierte, blieben die Rüben im Boden und schossen wie Spinat ins Kraut.
    Timmy war es, den er retten wollte.
    Er kam mit dem Bauarbeiter nicht zurecht und hatte dann niemanden, der ihm helfen konnte. Er hob eine rechteckige Grube aus wie für ein Schwimmbecken oder Massengrab. Ich stellte mir vor, wie wir darin lagen und in Flammen aufgingen. Er wußte, daß es nicht gut war. Er hatte Zeichnungen von einem unterirdischen Heim angefertigt, mit einer Trockentoilette, einem Gaskocher und Etagenbetten, doch damit hatte die Grube keine Ähnlichkeit.
    In den Nachrichten zeigten sie uns, wie die große graue amerikanische Flotte nach Kuba unterwegs war, und später dann, wie sie wieder abfuhr. Ich kann mir Schiffe, das Meer und Kuba nicht in Farbe vorstellen, und ich dachte damals: Wie froh bin ich, daß alles in Schwarzweiß ist, als sei es schon Geschichte.
    Als dann tatsächlich alles vorbei war, war Sonny mehr darüber erleichtert, daß er den Atombunker nicht fertigstellen mußte, als darüber, daß die Welt gerettet worden war. Seitdem er sein halbes Ohr verloren hat, sind er und die Welt nicht mehr glücklich miteinander gewesen. Wenn die Welt zwischen einem leeren Atombunker und Sonny hätte wählen müssen, dann hätte sie sich bestimmt für den Atombunker entschieden.
    Auf Sonnys Zeichnung gab es drei Etagenbetten. Nicht vier.
    Ich gehe in Marys Zimmer und sehe nach, was sie zurückgelassen hat. Ich versuche aus dem wenigen, was noch da ist, ihren Beruf zu erraten. Einst war sie eine Wolkenkünstlerin gewesen. Dann fing sie an, Waffen gegen uns zu schmieden. Sie wurde zum Feind.
    Ich reiße die Wolkenbilder herunter. In einem staubigen Schrank finde ich Gummistiefel, vielleicht jene, die sie bei dem Ballett getragen hat. Da ist ein Tennisball, grün vom Grabenwasser, an der Naht aufgeplatzt. Außerdem gibt es noch ein Lexikon der Erfindungen , das einmal Livia gehört hat. Ich entdecke auch ein Küchenmesser, das seit einem Jahr gefehlt hat. Mich schaudert, wenn ich Sachen anfasse, die verloren waren.
    Seit sie weg ist, träume ich von ihr. Wir können uns unsere Träume nicht aussuchen. Wir werden von ihnen ausgewählt. Wir sind immer auf einem Bahnhof, Mary und ich. Ich bin jünger. Mein Haar ist schwarz und dick. Ich steige in den Zug, erleichtert, wegfahren und Mary auf dem Bahnsteig zurücklassen zu können – ihr flaches Gesicht, das dem meinen so wenig ähnelt, ihren merkwürdigen Körper.
    Doch sie will, daß ich mich aus dem Zugfenster lehne, ummich von ihr zu verabschieden. Ich muß mich aus dem offenen Fenster zu ihr hinunterbeugen, um sie zu küssen. Und dann fällt mein Haar um ihren Hals wie eine Schlinge, und in diesem Augenblick fährt der Zug an, und ich versuche sie wegzustoßen, doch sie hängt in meiner Haarschlinge, und sie muß auf dem Bahnsteig neben dem Zug herlaufen, damit ihr nicht der Kopf abgerissen wird.
    Ich rufe um Hilfe, aber es ist niemand im Wagen und niemand auf dem Bahnsteig. Und dann hört der Bahnsteig auf, und Mary hängt mit dem Hals in meinem Haar, und ihr Gewicht zieht mich halb aus dem Zug, doch ich halte durch, halte tapfer durch, denn ich weiß ja, daß sie bald fallen und neben den Schienen liegenbleiben wird und daß ich

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