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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Auf den Plätzen waren keine Netze. Die Linien würden nachgezogen werden müssen. Ich dachte: Ich bin siebzehn, und es wird immer Winter sein. Meine Knie wurden blau vorKälte. Ich war versteinert von meinem Haß auf Ranulf Morrit. Als es dunkel wurde, konnte ich selbst meine Augen nicht mehr bewegen.
    Miss Gaul fand mich. Ein Tropfen aus ihrer langen Nase fiel auf meine Hand und berührte mich wie ein Zauberstab. Sie ließ mich aufstehen und mit den Armen um mich schlagen, doch ich konnte mich nicht richtig strecken. Gebeugt und mit hängenden Armen lief ich wie ein Neandertaler über das Hockeyfeld zurück. Ich dachte: Wie schön wäre es doch, sich in eine frühere Zeit zurückversetzen zu können, in eine Zeit, in der niemand sprechen konnte.
    Miss Gaul nahm mich mit ins Lehrerzimmer, den einzigen Raum in der Schule, der eine elektrische Heizung hatte. Der Unterricht war zu Ende, und die Lehrer machten sich Kaffee und zündeten sich Zigaretten an – Tätigkeiten, die man ihnen gar nicht zugetraut hätte. Sie lächelten mich freundlich an, als wären sie eine Familie, zu der ich für eine halbe Stunde gehörte.
    Das war vor meinem Weihnachten mit Cord gewesen. Als ich zur Schule zurückkam, war Lindsey nicht mehr da. Ich versuchte nicht daran zu denken, wo sie war und was sie tat. Ich schickte ihr auch nicht den Pelz meiner Anorakkapuze. Ich war froh, daß ich nicht Ramona, die spanische Köchin, war, und nahm mir vor, sie zu vergessen.
    Ich konnte sie aber nicht vergessen.
    Selbst wenn ich in Gedanken ein gleichseitiges Dreieck suchte, endete ich bei Lindsey. Sie schien ständig auf mich zu warten.
    Ich war keusch gewesen. Doch jetzt, nachts in meinem Sargbett, wurde ich Martin Ward, Lindseys Liebhaber. Ich kam nicht dagegen an. Sie hätte mir nicht erzählen sollen, was Ranulf mit ihr machte. Jetzt wollte ich es auch tun. Ich legte mich auf sie. Meine Brüste verschmolzen mit den ihren. Ich schloß die Augen. Sie flehte, ich solle tiefer in sie eindringen, ihr weh tun. »Zerstör mich, Martin!« Und danach hatte sie blaue Flecken und weinte. Ich küßte ihr die Tränen von den Augen und flüsterte ins nasse Kissen: »Lindsey, du bist selbstschuld.« Vor dem Einschlafen dachte ich: Morgen ist es vorbei. Morgen werde ich sie vergessen und mit meinem Aufsatz über Hamlet fortfahren können. Und dann kam der nächste Tag, und ich hatte sie nicht vergessen.
    In mir stieg wieder der Wunsch auf, mich jemandem anzuvertrauen. Ich war nicht mehr der kleine Martin. Ich dachte und fühlte jetzt wie ein junger Mann.
    Schweigend saß ich bei Miss McRae am Kamin. Sie glaubte, ich trauere meinem Heim und meiner Familie nach. Sie strickte für ihre Schwester in Oban einen dicken Pullover mit Zopfmuster und sagte: »Die Zeit heilt Wunden, Mary, es wird schon alles gut.«
    Ich erwiderte: »Ich bin krank, Miss McRae. Ich kann nicht arbeiten. In meinem Innern ist etwas nicht in Ordnung.«
    Miss McRae ließ ihr Strickzeug sinken. »Das klingt ernst, meine Liebe.«
    So fand ich mich in einer Arztpraxis wieder. Ich hätte nicht sagen können, wie ich hingekommen war.
    Ich saß dort allein, mit einer Reihe anderer, die ebenso allein waren, auf einem harten Stuhl. Das Wartezimmer war ein Flur ohne genügend Licht zum Lesen. Die anderen rutschten unruhig hin und her und husteten. Ich wagte nicht, mich umzusehen, aus Angst, mein Vater könnte darunter sein und sich am Ohr zupfen.
    Als ich ins Sprechzimmer kam, zog der Arzt seinen Stuhl ganz dicht an den Schreibtisch heran und fragte: »Nun?« Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Der alte Arzt hatte Hodgkin geheißen und siebenundzwanzig Jahre lang in Swaithey gelebt. Ich dachte, daß er vielleicht gestorben war. Auch mein Vater konnte inzwischen tot sein. Denn es schien viel Zeit verstrichen zu sein...
    Unerwarteterweise war meine Stimme fest. Es war, als hätte die Geschichte all meinen Atem seit dem Tode Hakluyts für diesen Augenblick aufgespart.
    Ich begann: »Sie werden mir nicht glauben, was ich Ihnen sage.«
    Ich hielt mich sehr gerade und war ruhig. Ich sprach so klar und fließend, wie ich es mir für meine Schuldiskussion über Hitler gewünscht hätte. Ich erklärte dem Arzt, daß ich siebzehn Jahre alt sei.
    Er sagte: »Gut. Und?«
    Ich fühlte Schweigen aufkommen. Doch das durfte ich nicht zulassen, da meine Worte darin eintauchen und untergehen würden.
    »Ich habe versucht, es jemandem zu erzählen. Zweimal schon. Doch dann habe ich es mir jedesmal anders

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