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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mich sehnte, seit ich Billy Harker auf dem Schoß gehalten hatte, konnte er mir nicht schenken. Er dachte, ich könnte statt dessen einen Hund lieben. Es war ein junger Schäferhund. Sonny legte ihn mir in die Arme und sagte: »Er heißt Wolf.« Wahrscheinlich hatte er erwartet, ich würde im siebten Himmel sein und den Hund an meine Brust drücken. Doch ich empfand nichts für ihn, Fehlanzeige, wie sie im Fernsehen sagen. Ich ließ ihn fallen, und Sonny fluchte. Er hat vergessen, daß er einmal Manieren hatte und mit der Mütze in der Hand und gebeugtem Kopf dastand. Ich ging weg. Als ich mich noch einmal nach ihm umdrehte, sah ich, wie er Wolf aufhob, sich setzte und ihn auf den Schoß nahm.
    Er kann einen Hund lieben, ich nicht.
    Ich ging ins Mountview, weil ich fast ein Verbrechen begangen hätte. Ich hatte es geplant. Im Traum und auch sonst. Ich wollte einen Koffer packen mit allem, was ich brauchte, und dann den Zug nach Lowestoft nehmen, doch jetzt sehe ich die Tragweite dessen, was ich vorhatte. Ich sehe, welches Entsetzen und welchen Schmerz ich verursacht hätte. Ich habe es gerade noch rechtzeitig erkannt.
    Und ich bin dafür belohnt worden. Ich bin verliebt, verliebt in einen Mann, der weit weg ist und nie mit mir spricht. Aber so ist es nun mal im Leben. Es ist Bobby Moore, der englische Mannschaftskapitän. Sein Haar sieht auf dem Fernsehschirm weiß aus, und er hat Grübchen, wenn er lächelt. Mich interessiert jetzt nur noch sein Schicksal und das seiner Mannschaft. Aber auch die anderen im Mountview sind augenblicklich annichts anderem als an Fußball interessiert. Wir haben unser eigenes Leben und alles, was es beinhaltete, vergessen. Statt dessen träumen wir vom Glanz und Ruhm Englands. Wir sitzen im Dunkeln und rufen mit der Zuschauermenge im Stadion: »England! – England! England! – England!« Wir haben neue Feinde. Sie heißen Pelé, Jairzinho, Eusebio, de Michele, Weber und Beckenbauer. Draußen ist Sommer, doch wir nehmen kaum Notiz davon. Und selbst die Schwestern, bei denen nichts geheilt werden muß und die nicht versuchen müssen, etwas zu vergessen, sieht man ins Zimmer schleichen, stehenbleiben und auf den Bildschirm blicken, und es ist klar, daß auch in ihren Köpfen alles dem Fußball Platz macht. Sie vergessen die Zeit. Sie vergessen, ihre Patienten daran zu erinnern, daß sie sich zur Behandlung in den OP-Flügel begeben müssen. Sie werden mitgerissen. Wir alle werden sehr leicht mitgerissen. Und wünschen uns, daß es nie aufhört.
    England ist in Gruppe eins. Wir haben null zu null gegen Uruguay gespielt. Mexiko haben wir zwei zu null und Frankreich ebenfalls zwei zu null geschlagen. Die Fernsehreporter sagen, daß mein Geliebter, mein Held Moore, ein vorausblickender Mannschaftskapitän ist. Er versteht es, ein Spiel richtig einzuschätzen, und weiß, wie man von der Verteidigung in den Angriff übergeht. Nur sein Kopf ist suspekt, sagen sie. Moore lebt im Wolkenkuckucksheim. Ich bin drauf und dran, ihm wie ein Teenager einen Brief zu schreiben: »Lieber Bobby, eins, und nur dieses eine, haben wir gemeinsam: Man kann sich nicht auf unseren Kopf verlassen...«
    Die Phantasie des meinen brachte mich auf einen Campingplatz. Ich sah ihn deutlich vor mir: alte Wohnwagen, denen die Farbe abblätterte, in der heißen Sonne. Ich konnte die Familien auf ihren kleinen Plätzen sehen und all die Sachen, die sie herumliegen und -stehen ließen: Dreiräder, Decken und Anoraks. Und Kinderwagen. Manchmal waren die Kinderwagen leer, manchmal aber auch nicht. Manchmal standen sie mit einem weißen Netz darüber im Schatten eines Wohnwagens, und unter dem Netz war ein schlafendes Baby.
    Ich bin sicher, daß der Campingplatz, wenn ich hingegangen wäre, genauso wie in meiner Vorstellung ausgesehen hätte. In dieser Hinsicht ist mein Kopf nicht suspekt. Ich kann manches sehen, bevor ich es tatsächlich sehe, und weiß genau, wie es sein wird. Ich wollte ein Kind entführen. Ich wollte Babynahrung, Creme und Windeln kaufen und mit ihm nach Schottland in eine Einöde gehen, wo mich niemand finden würde. Ich wußte, daß es ein Verbrechen war, aber ich wußte auch, daß ich es trotzdem tun würde. Ich machte mir keine Gedanken über die Folgen.
    Das Viertelfinale steht bevor. O Gott. Wenn Bobby mit seiner Mannschaft verliert, wird es hier ein großes Wehklagen geben. Selbst unter den Schwestern. Daher sage ich zu Schwester Matthews: »Halten Sie alle Medikamente bereit. Sehen Sie zu, daß Sie

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