Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
ausreichend davon dahaben, um uns für vier Jahre, bis zur nächsten Fußballweltmeisterschaft, in Schlaf zu versetzen. Auf diese Art sparen Sie auch Zeit, Tee und Wäschereikosten.« Ich lache, und Schwester Matthews lacht ebenfalls. Sie sieht mich anerkennend an. Im Mountview denkt das Personal, daß wir, wenn wir einen Witz machen können, beinahe schon wieder gesund sind, fast schon wieder dahin zurückgeschickt werden können, wo wir hergekommen sind.
Der Ort, wo ich herkomme, hat sich stark verändert. Sogar Grace Loomis beklagt sich jetzt darüber, daß sich unser Unkraut auf ihren Feldern aussät. Es ist Erntezeit, und Sonny, Tim, der Mähdrescher und Wolf sind allein damit; es übersteigt ihre Kraft. An dem Morgen, an dem mich Sonny herfuhr, sagte ich zu ihm: »Verkauf das Land! Das ist doch das beste. Verkauf es an die Loomis, dann haben wir alle Ruhe.« Er fuhr weiter, ohne ein Wort zu erwidern. Er ist fünfzig, sieht aber wie ein alter Mann aus. Am Tor zum Mountview sagte er dann: »Niemals.« Er hielt an, stieg aus, reichte mir den Koffer und wiederholte: »Niemals, Estelle.«
Wir spielen gegen Argentinien, das Spanien, Westdeutschland und die Schweiz geschlagen hat. Wir hören, daß alle Argentinier Fußballnarren sind. Sie frönen ihrer Narretei in den Slums und Hinterhöfen ihrer Städte, Tag und Nacht, im Winter wie im Sommer. Wenn sie sich auf dem Wembley-Rasen aufstellen und ihre Nationalhymne gespielt wird, bekreuzigen sie sich. Wie Timmy glauben sie an einen Schöpfer. Doch ihr Schöpfer kann sie nicht vor einem Kopfball von Hurst bewahren. Ihr Torwart kniet auf dem Boden und wünscht sich, er wäre nicht hier, sondern weit weg in seinem eigenen Land, in irgendeiner heißen Straße, wo vertraute Wäsche hängt.
Am Tag des Endspiels zwischen England und Westdeutschland war eine meiner Behandlungen fällig, doch ich wollte nicht hingehen. Denn nach der Behandlung wacht man auf und fühlt nichts, keinen Zorn, keine Freude, keine Sehnsucht, keine Traurigkeit, nichts. Alle Liebe, die man empfunden hat, ist verschwunden. Man ist still und leer und rein. Man begehrt nichts. Man kann gar nicht glauben, daß man je im Fernsehzimmer aufgestanden ist und »England! – England!« gerufen hat.
Ich versteckte mich in einem der Gewächshäuser. Dort wurden Tomaten gezogen, und ihr Duft lag in der feuchten Luft. Ich saß im Schatten neben dem Wassertank und hatte Angst um England und um Bobby Moore und sein Lächeln. Meine Mutter hatte vom Ruhm geträumt und diese Träume an mich weitergegeben. Ich hätte es gern gehabt, wenn Timmy Kunstspringer geworden wäre. Ich hatte nie bemerkt, daß er Angst hatte. Und nun wartete ich in einem Gewächshaus auf Englands Bewährungsprobe. Ich dachte: Das Schlimmste, was passieren kann, ist ein Stromausfall. Das Spiel nicht zu sehen, nicht zu durchleiden, ist schlimmer, als zu sehen, wie sie es verlieren. Schließlich kommt es nicht allzuoft vor, daß ich – so oder so – an irgend etwas in meinem Leben interessiert bin.
Ich war an dem Kind interessiert gewesen. Das Zimmer, Marys altes Zimmer, stand bereit. Ich hatte es blau gestrichen und Mobiles aus Balsaholz und Glas aufgehängt. Zwei Jahre lang ertrug ich Sonnys Versuche, mich zu schwängern, bis ichmerkte, daß es vergeblich war. Dann plante ich mein Verbrechen. Das einzige, was mich davon abhielt, war eine Erinnerung. Sie betraf Mary. Es war die Erinnerung an etwas, das so weit zurücklag, daß es in einem anderen, nicht meinem Leben stattgefunden zu haben schien. Es war die Erinnerung daran, wie wir Mary einmal auf einem Feld in der Dunkelheit verloren hatten. Sie war drei Stunden verschwunden – eine Stunde für jedes ihrer Lebensjahre –, und Sonny und ich waren verzweifelt gewesen.
Wegen dieser Erinnerung wußte ich also, wie es für die Mutter des entführten Kindes sein würde. Ich stellte mir vor, wie sie zum Kinderwagen kam und ihn leer vorfand. Sie riß die kleine Decke hoch und hielt sie sich vor den Mund. Ich erkannte, wie häßlich das alles war und welches Entsetzen es auslösen würde. Und so setzte ich mich hin, nahm den schwarzen Telefonhörer ab und wählte die Nummer meines Arztes. Ich sagte: »Ich möchte wieder ins Mountview. Wenn ich bitte mein altes Zimmer, das mit Blick auf den Garten, haben könnte.«
Sie fanden mich im Gewächshaus. Sie waren verständnisvoll und sagten, ich könne meine Therapie ein andermal bekommen. Dann fragten sie mich freundlich, ob ich viele Tomaten gegessen
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