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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hätte. Ich antwortete, daß ich keine einzige gegessen hätte, weil ich ganz krank vor Angst um die Mannschaft sei. Und sie meinten: »Dann kommen Sie, Estelle! Es ist gleich soweit.«
    Wir sind in der Verlängerung. Es steht zwei beide. In der Verlängerung hat die Zeit eine andere Qualität, sie ist schicksalsbeladen, als stünde die ganze Welt vor ihrem Ende. Wir alle im Zimmer leiden. Niemand ruft mehr »England – England!« Es riecht nach Urin und Angst. Ein alter Mann, ein ehemaliger Briefträger, sagt: »Sie sind am Ende. Schaut sie euch doch an!«
    Aber ich sehe, daß Bobby sie weiter antreibt. Er schreit sie an. Sein Gesicht ist schweißnaß, seine Socken sind runtergerutscht, doch er will noch immer, daß sie angreifen. Und siehaben auch noch nicht aufgegeben: Jackie Charlton, Bobby Charlton, Nobby Stiles, Martin Peters, Ray Wilson...
    Ich drehe mich um und sage zu dem Mann von der Post: »Sie sind nicht am Ende. Noch nicht.« Und in dieser Sekunde, in der ich dem Bildschirm den Rücken zuwende, schießt Geoff Hurst ein Tor. Sein Schuß prallt von unten an die Latte, und der Ball geht hinter die Linie. Jubel bricht aus, überall im Wembley und bei uns im Zimmer. Jubel, dann Schweigen. Das Tor ist strittig. Die Deutschen erheben Einspruch dagegen. Die Gesichter von Haller, Weber und Beckenbauer sind wie versteinert. Das Tor wird anerkannt. Neuer, diesmal noch stärkerer Jubel setzt ein. Schwester Matthews weint. Der Briefträger ist auf seinen Stuhl geklettert und wirft die Arme in die Luft. Wir erleben mit, wie Ruhm und Ehre zu uns zurückkehren.
    Wir sind an der Grenze dessen, was wir ertragen können. Verlängerungszeit verstreicht langsamer als normale Zeit. Sie hat etwas Außergewöhnliches. Ich sage laut: »Sie sollten wieder zur normalen Zeit übergehen.« Jemand brüllt mich an, ich solle still sein. Ich lege die Hände vor die Augen, so wie damals, als ich hörte, daß Livia oben am Himmel gestorben sei. Dann ist es vorbei. In letzter Sekunde schießt Hurst noch ein Tor. Das Spiel ist gewonnen. Der Sieg ist sicher. Mein geliebter Bobby und sein England sind an der Spitze der Welt, und all die Verrückten der Grafschaften und Städte schreien sich die Seele aus dem Leib und heulen wie die Schloßhunde.
    Ich selbst würde gern wie Livia zum Himmel steigen, mich dort auflösen und im Wolkenkuckucksheim weiterleben.
Ein guter Riecher
    Walter war verwirrt. Und zwar von seinen eigenen Gefühlen. Sie waren nicht so, wie er es erwartet hätte.
    An jenem Sonntag, im Wald von Tunstall, als Gilbert Blakey ihn zum erstenmal berührt hatte, und dann später, indem ans Sprechzimmer angrenzenden Raum mit dem Schild Wartezimmer , hatte er gedacht: All dies lasse ich nur zu, um ein Ausgestoßener zu werden, um mich von der Welt der höflichen Vorderzimmer und Babys in lachsfarbenen Häubchen abzugrenzen. Er hatte erwartet, danach Ekel vor sich selbst zu empfinden.
    Doch es folgte kein Ekel, sondern Hochstimmung und das Gefühl, endlich erwachsen zu sein. Und das war es, was ihn verwirrte – daß er sich glücklich fühlte. Glück hatte er nicht erwartet.
    Wenn er Gilbert ansah, fand er ihn schön, und zwar jedesmal aufs neue. Verglichen mit ihm, war Sandra nur hübsch gewesen, so hübsch wie eine Geschenkpackung Marmeladen, aber nicht einen Augenblick schön, nicht einmal an dem Tag im Boot mit den Tizer-Fläschchen.
    Jetzt sah er in seinen Gefühlen für Sandra und seinen Nachmittagen mit Cleo Verfehlungen seiner späten Jugend. Er war unerfahren gewesen, hatte sich nach Verliebtheit gesehnt und sie dann für Liebe gehalten. Es war aber keine Liebe gewesen. Das hier war Liebe: Gilbert. Er war Eden, der Garten Eden für ihn.
    Doch dann – und deshalb ließ sein Glücksgefühl allmählich nach – merkte er, daß Gilbert seine Liebe nicht erwiderte. Er erwiderte zwar etwas, doch es war keine Liebe. Daher nahm seine Verwirrung noch zu. Gilbert hatte all das angefangen: Er hatte das Kabriolett gekauft, sich mit ihm auf vertrauliche Art und Weise über Kennedy unterhalten, seine schmale Hand auf Walters Bein gelegt, sich vorgebeugt und ihn auf den Mund geküßt. Darin hatte Walter eine Art Werben, ein sorgfältig geplantes Vorspiel für eine Liebesaffäre gesehen. Und die Affäre war ja auch von langer Dauer. Gilbert bezeichnete sie nach einer Weile als »notwendig«. Doch es war eine einseitige Liebe. Und wenn ihn Gilbert jetzt küßte, hatte Walter ein Würgen im Hals.
    Eines Abends versuchte er, dies seinem

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