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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Liebhaber zu erklären. Gilbert lag nackt, mit abgewandtem Gesicht, im Wartezimmer auf der Couch. Walter kniete neben ihm. Ohne den Kopf zu bewegen, sagte Gilbert: »Das liegt daran, daß du dich von deinen Gefühlen leiten läßt. Versuche, nicht zu fühlen. Versuche, nur zu sein.«
    Walter war es unmöglich, nicht zu fühlen. Er konnte zwar eine Färse ohne Gemütsbewegung schlachten und einem Huhn die Innereien und das Herz herausnehmen, doch wenn er Gilbert nur ansah, stiegen Gefühle in ihm auf. Alles an ihm sehnte sich nach Gilbert; er spürte dieses Sehnen hinter den Augen, in der Krümmung seiner Schultern und in seinen schweren Füßen. Er hatte nur noch den einen Wunsch, von ihm berührt zu werden. Es war einfach unlogisch. Er hatte Widerwillen erwartet und ein baldiges Ende, doch beides traf nicht ein. Statt dessen entstand Leidenschaft, die blieb. Sie wollte nicht nachlassen. Ein neuer Sommer kam und ging. Sie fuhren nicht mehr im MGB spazieren. Es gab nur noch die Treffen im Wartezimmer und Walters hartnäckige, verwirrte Liebe.
    Er konnte mit niemandem darüber sprechen. Nicht mal mit Pete. Er hatte einmal versucht, ein Lied darüber zu schreiben, doch ein Country-song schien nicht zu jemandem von Gilberts Klasse zu passen. Und seit kurzem beklagte sich Gilbert sogar über das Landleben. Er sagte, die Leute von Suffolk seien kleinmütig und hätten keinen Weitblick; es sei wohl langsam an der Zeit für ihn, wegzugehen.
    Walters dreißigster Geburtstag rückte heran. Sandra Cartwright hatte jetzt zwei Kinder. Sie hatten einen Lohnempfänger, einen Schlachter mit der Tätowierung »Mutter« auf dem Nacken, eingestellt, der Pete im Hof half. Tante Josephine kam häufig für längere Zeit zu Besuch, verbreitete den Duft von Talkumpuder im Haus und kochte mitten in der Nacht Milch. Walter ertrug all dies, fand es aber schrecklich. Er sagte zu Gilbert: »Könnten wir nicht irgendwohin gehen?«
    »Wohin denn?«
    »Ich weiß es nicht. Ich kenne nicht viel von der Welt.«
    »Das stimmt. Sonst würdest du nicht solche Fragen stellen.«
    Jedes halbe Jahr mußte Walter von Gilbert Zahnstein entfernen und die Zähne polieren lassen. Er saß dann zurückgelehnt unter der Miralux-Lampe. Die Zahnarzthelferin raschelte und seufzte irgendwo zu seiner Linken. Gilberts Gesicht war dem seinen sehr nah, jedoch verkehrt herum, nicht wiederzuerkennen, als trüge Gilbert eine Maske. Aber die Berührung seiner Hände war ihm sehr vertraut, ebenso seine abgehackte, lispelnde Sprechweise, als er kritisierte, wie Walter seinen Mund vernachlässigte. Und diese Viertelstunden im Zahnbehandlungsstuhl bestätigten Walter darin, daß er einer Sache ausgeliefert war, die er niemals ganz begreifen würde.
    Der Geist vom alten Arthur suchte ihn jetzt nicht mehr heim, wofür Walter sehr dankbar war. Sein Anblick und Gestank waren zu grotesk gewesen. Doch manchmal ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er sich vielleicht seinem Vorfahren hätte anvertrauen können, ohne daß dieser, mit seinem schlechten Benehmen, gleich so schockiert gewesen wäre, daß er ein zweites Mal eines ungewöhnlichen Todes gestorben wäre. Sein Bedürfnis, mit jemandem über seine Liebe zu sprechen, wurde immer stärker.
    Margaret Blakey fiel auf, daß sich das Verhalten und die Gewohnheiten ihres Sohnes änderten. Er versucht das vor mir zu verbergen und vergißt, daß ich für so etwas einen guten Riecher habe, dachte sie. Sie lebten schon so lange zusammen. In dieser Zeit waren vierzehn Meter Felsen abgebröckelt. Eine Frau, die ihr Leben am Abgrund verbrachte, reagierte empfindlich auf Veränderungen. Doch das schien Gilbert vergessen zu haben.
    Er war ruhelos. Manchmal blieb er bis spät am Abend in der Praxis. Er sprach von oben herab mit ihr, wie jemand, der von weit her kam, von einem Ort, den sie nie kennenlernen würde. Er machte auf sie den Eindruck eines Menschen, der am Rande einer Katastrophe stand. Auch hatte er angefangen, sich die Haare und den Schnurrbart zu einem strahlenden brausefarbenen Blond zu färben.
    »Ich weiß, daß es dir nicht gefällt, wenn ich so etwas sage«, begann sie eines Abends.
    »Was denn?« fragte er müde.
    »Ich mache mir Sorgen um dich. Ich kann nicht den Finger darauf legen, aber du bist nicht mehr der alte.«
    Er konnte es nicht ertragen, daß seine Mutter so oft in Klischees sprach, als habe sie ihre Muttersprache nicht richtig gelernt.
    »Ich weiß nicht, was du mit ›der alte‹ meinst«, entgegnete er.
    »Das

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