Die Verwandlung
fest, dass ich riesigen Hunger hatte. Mir wurde auch bewusst, dass es inzwischen draußen dunkel geworden war. Es war beinahe 20 Uhr. Angst machte sich in meinem Körper breit. Ich konnte das alles nicht noch einmal durchmachen, die Verwandlung in die Nächtliche Emily, dann in die… Wölfin. Nicht, solange dieser Mann dort draußen auf mich wartete und meinen Tod wollte. Ich wusste, dass, wenn ich nicht schnell handelte, die Nächtliche Emily nicht annähernd so vorsichtig sein würde wie ich. Sie würde wahrscheinlich bei einem Pfandleiher die Scheibe einschlagen, ein paar Schlagringe stehlen und sich auf die Jagd nach dem Typen machen, der versucht hatte, mich zu erschießen. Und am Ende würde sie selbst– das heißt ich– dabei erschossen. Sollte das mein neues Leben sein? Würde ich Tag für Tag in Angst und Schrecken leben müssen, weil ich wusste, dass ich mich jede Nacht in eine andere Ausgabe meiner selbst verwandeln würde, die ich nicht wirklich unter Kontrolle hatte? Wie könnte ich so weiterleben? Wie könnte irgendjemand so weiterleben? Ich schloss die Augen und atmete tief durch, zwang mich dazu, nachzudenken und mich auf das Heute zu konzentrieren. Weiter in die Zukunft zu denken würde mich in den Wahnsinn treiben. Ich musste einen Weg finden, nicht zum fünften Mal in Folge nachts durchzudrehen. Wenn ich damit recht hatte, dass Dalton und Emily C. wie ich waren, dann waren sie ebenfalls Werwölfe und der Attentäter war deswegen hinter ihnen her gewesen. Wäre es nicht durch die gesamte Presse gegangen, wenn sich Dalton die letzten beiden Nächte im Krankenhaus spontan in einen Wolfsmenschen verwandelt hätte? Der Unterschied zwischen mir und Dalton? Er war die beiden Nächte, in denen ich mich verwandelt hatte, nicht bei Bewusstsein gewesen. Das bedeutete vielleicht, dass, wenn ich ebenfalls nicht bei Bewusstsein war… Ich rannte ins Badezimmer und riss den Medizinschrank auf, wo ich die Schlaftabletten meiner Stiefmutter fand, sie noch einmal öffnete und zwei Tabletten stahl. Ich trank das Wasser direkt aus der Leitung und schluckte sie hinunter. Erst danach erwägte ich, dass es eventuell einen anderen Grund dafür gab, dass ich mich in eine Wölfin verwandelt hatte und Dalton nicht. Doch jetzt war es ohnehin zu spät. Die Tabletten waren in meinem leeren Magen, lösten sich auf, schossen mir ins Blut und machten mich benommen. Zurück in meinem Zimmer zog ich mir meinen Schlafanzug an, machte das Licht aus und legte mich ins Bett. Das Letzte, was ich sah, bevor ich einschlief, waren die Leuchtziffern meiner Uhr, die auf 20 . 04 Uhr standen. Das Letzte, was ich dachte, war: Bitte, lass mich recht haben …
15
Communist Herrings, hä?
Ich wachte am nächsten Morgen abrupt auf, das Adrenalin schoss mir durch die Adern, und ich war davon überzeugt, dass der Attentäter über mir stand und mit der Pistole in der Hand auf meinen Kopf zielte, bereit, mir das Hirn wegzupusten. Doch ich war selbstverständlich allein, noch immer im Schlafanzug und weder von Dreck, Sabber oder Kratzern übersät. Nach mehreren Tagen war dies der erste Morgen, an dem es keine Anzeichen dafür gab, dass ich draußen verrückt gespielt hatte. Die Tabletten hatten also gewirkt. Ich stand vom Bett auf und trat beinahe auf den Stapel DVD s und Bücher, die ich letzte Nacht kurzerhand auf den Boden geworfen hatte. Mal ganz im Ernst: Filme und Bücher über persönliche Veränderungen sind mir heilig. Außerdem bin ich ein Mensch, der seine Filme und Bücher nach Titel und/oder Autor archiviert und sie in absolut makellosem Zustand hält. Ich habe sogar eine kleine Inventarliste von allem, was ich besitze, auf meinem Computer, von Bücher: Adams, Douglas, bis hinunter zu Filme: Zodiac. Absolut penibel, ich weiß. Aber ich habe Listen schon immer gemocht, sogar schon, bevor Dad die Bibliothekarin Katherine geheiratet hatte– eine Dame mit einem ernsthaften Hang zu Organisation. Zum ersten Mal seit einer Woche fühlte ich mich ausgeruht, hatte einen klaren Kopf. Was tags zuvor große Verwirrung bei mir ausgelöst hatte, erschien mir jetzt… schon beinahe normal. Die Verwandlung in ein enthemmtes Partygirl? Ein alter Hut. Werwolf? Wer hatte sich nicht wenigstens einmal in ein mystisches Biest verwandelt? Ich konnte an diese Dinge denken, als würde ich dabei an jemand ganz anderen denken– als würde ich mir einen Film ansehen, in dem meine schauspielernde Doppelgängerin ältere Männer anmachte und durch die Wälder
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