Die Verwandlung
Leichtathletik-Wettbewerb das Bein gebrochen hatte.
Ganz vorn in der Kapelle, auf einem drapierten Tisch unter einem modernen Bleiglasfenster, stand ein geschlossener Sarg. Emily C.s Sarg. Neben dem Sarg befand sich eine Staffelei, auf der ein vergrößertes Schwarz-Weiß-Foto von Emily Cooke stand, das künstlerisch und unglaublich gut komponiert war– sage ich, das Mädchen, das auf Filmkunst steht: Sie saß auf einer Verandastufe und betrachtete nachdenklich einen See. Ihr Gesicht war halb im Schatten, als wäre das Bild bei Sonnenuntergang aufgenommen worden, und sie lächelte etwas schief, so als hätte sie eine superernste Pose einnehmen wollen, diese aber nicht so lange aufrechterhalten können, bis die Kamera endlich losgegangen war.
Als ich die Leute in den Kirchenbänken betrachtete, kam ich mir völlig fehl am Platz vor. Viele der hier Anwesenden hatte ich noch nie gesehen, doch diejenigen, die ich kannte– in erster Linie Teenager–, hatten mit Emily Cooke tatsächlich in Verbindung gestanden. Es war, als würde ich in eine weitere ihrer Privatpartys eindringen. Einen Moment lang hatte ich Herzflattern, weil ich Angst hatte, dass sich irgendjemand umdrehen, mich sehen und sich dabei denken würde, ich wollte Emily C.s Beerdigung ebenso ruinieren, wie mir das bei Mikey Harris’ Party gelungen war. Ich zog den Kopf ein, nahm Dawns Hand und führte sie zu einem Stehplatz an der hinteren Wand. Es war so überfüllt, dass dort bereits einige Leute standen, also wirkte das nicht irgendwie seltsam.
Der Gottesdienst begann damit, dass ein Pastor über Asche zu Asche, Staub zu Staub redete– die Art von Dingen, die man normalerweise bei Beerdigungen im Fernsehen sieht. Ich schätze, sie sind wohl trotz allem recht lebensnah.
Nach der Predigt traten Emily Cookes Freunde und Familienmitglieder nach vorn und sprachen über ihr Leben. Mikey Harris, im schlecht sitzenden Anzug und mit Pomade im geglätteten Haar, fummelte nervös mit seinen Notizzetteln herum, als er darüber sprach, wie Emily Cooke stets versucht hatte, jedermann zu fotografieren, dass sie davon geträumt hatte, dies zu ihrem Beruf zu machen. Er verriet, dass sie das Foto auf der Staffelei mit Selbstauslöser tatsächlich selbst geschossen hatte– ein Selbstporträt. Also waren jene Fotos, die ich auf ihrer Website gesehen hatte, von ihr. Sie hatte Talent gehabt.
Anschließend stand Mai auf, während ihr die Tränen in kleinen Bächen die Wangen hinunterliefen. Sie erinnerte sich daran, wie Emily Cooke ihr, nachdem sie sich das Bein gebrochen hatte, jeden Tag lange E-Mails geschrieben hatte. Außerdem hatte sie sich Kurzgeschichten darüber ausgedacht, wie Mai eine mechanische Prothese bekommen und nach ihrer Rückkehr auf die Aschenbahn jedem damit in den Hintern getreten hatte. Oder sie hatte sich lange und verzwickte Witze mit dummen Pointen ausgedacht, um sie zum Lachen zu bringen.
Mehr Familienmitglieder und Freunde erhoben sich und teilten ihre Geschichten miteinander, sprachen über Ausflüge, die sie mit Emily Cooke gemacht hatten, darüber, wie witzig sie war, wie kreativ. Sie war ganz und gar nicht perfekt gewesen, wie ihr Vater betonte– sie war stets damit beschäftigt gewesen, über die Dinge nachzudenken, die sie tun wollte, und hatte darüber oft vergessen, das zu erledigen, was sie tun sollte. Zum Beispiel hatte sie einmal versprochen, ihrer kleinen Schwester eine Dauerwelle zu machen, und war zum Fotografieren hinausgegangen, während sie ihre Schwester mit einer Mülltüte über den Kleidern und Chemikalien auf dem Kopf auf dem Stuhl hatte sitzen lassen. In diesem Jahr hatte sich Emily Cookes Schwester mit einem wirklich kurzen Haarschnitt präsentiert.
Ich lachte gemeinsam mit den anderen über diese Geschichte, und mir wurde etwas klar: Megan irrte sich, was Emily Cooke anging. Und ich hatte mich ebenfalls geirrt, als ich gedacht hatte, sie wäre einfach nur eine schöne Verpackung ohne Inhalt. Emily Cooke war nicht einfach nur ein farbloses, reiches Mädchen gewesen. Es war schon seltsam– ich hatte so viel Zeit damit verbracht, mich vor Leuten wie Emily Cooke zu verstecken, dass ich gar nicht darauf gekommen war, dass sie und ich eventuell tatsächlich ein paar Dinge gemeinsam haben könnten. Wir hätten Freundinnen sein können. Ich fühlte mich auch irgendwie schuldig, wie man vielleicht nachvollziehen kann. Hier stand ich nun, ein mickriges kleinlautes Etwas, dessen große Ziele nicht weiter reichten, als lange
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