Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
denke an die 30- bis 50-Jährigen, welche in der Erziehungsverantwortung stehen. Nun werden vielleicht einige Leser anmerken wollen, dass diese Forderung leicht anmaßend wirke. Was soll eine solche Unterstellung erwachsenen Menschen gegenüber?
Dazu eine kleine Begebenheit: Nach einem anstrengenden Termin kamen eine Kollegin – Mitte 30 – und ich zur Übereinkunft, gemeinsam ein Abendessen im Restaurant um die Ecke einzunehmen. Jeder bestellte etwas Schmackhaftes von der breit sortierten Speisekarte. Ein Eis sollte den Abschluss bilden. Mein Teller war schon abgeräumt, auf dem meiner Kollegin befanden sich noch eine halbe Kartoffel und ein Häppchen Fleisch. Als sie den Teller in diesem Zustand nach einiger Zeit dem Kellner zum Abräumen gab, stutzte ich. Sie schien es bemerkt zu haben und wollte wissen, was denn sei. Da wir uns gut kannten, fragte ich: »Theresa-Maria, wieso lässt du denn diese zwei Bissen in den Abfall wandern, hat es dir nicht geschmeckt?« »Doch«, sagte sie, »sehr gut sogar, aber dies ist eine persönliche Macke von mir, ich gebe immer einen Rest zurück.« Meine Verwunderung über ihre Antwort muss deutlich in meinem Gesicht gestanden haben. »Und wieso?«, fragte ich. »Das ist ganz einfach«, meinte sie leicht verlegen, »es ist meine Art der Reaktion auf den früher von den Eltern streng gesetzten Rahmen, immer die von Mutter zugeteilte Menge auch essen zu müssen. Jetzt leiste ich mir die Freiheit, immer etwas auf dem Teller zu lassen.« Darüber, dass sie auf diese Weise natürlich keine freie Entscheidung trifft und ihr Handeln immer noch Ausdruck des mütterlichen bzw. elterlichen Einflusses ist, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, haben wir uns noch lange unterhalten. Ihr abschließender Seufzer: »Vielleicht werde ich ja doch noch mal erwachsen.«
Solche in Kindheit und Jugendalter erhaltenen Prägungen hindern uns nicht selten zeitlebens, wirklich eigenständige Entscheidungen zu treffen. Dass dies im Umgang mit Kindern äußerst problematisch sein und zu recht skurrilen Situationen führen kann, können einige Bruchstücke von Gesprächen zum Thema Erziehung in Beratungssituationen oder bei Wochenendseminaren verdeutlichen:
»Wenn ich mit meiner Tochter Vereinbarungen treffen muss, wann sie abends von der Party nach Hause zu kommen hat, kann ich gar keinen klaren Kopf behalten. Mal möchte ich keine Grenze setzen und selbst bis tief in die Nacht mitgehen, weil ich als Älteste keine Gelegenheit ›zum Ausgehen‹ hatte, mal bin ich versucht, die Zeiten zu knapp zu setzen, weil sie es ja auch nicht besser zu haben braucht als ich.« – »Ich gerate ständig mit meinem 14-jährigen Sohn aneinander. Dauernd gibt es Machtkämpfe.« Nach längeren Gesprächen stellte sich heraus, dass der überstarke eigene Vater bestimmte Diskussionen erst gar nicht zuließ – auch heute ist dies noch so – und dementsprechend ein Nachgeben oder Einlenken dem Sohn gegenüber als persönliches Versagen und Ausdruck fehlender männlicher Durchsetzungskraft empfunden wurde. – Ein 45-jähriger Lehrer, welcher von seiner Mutter immer noch dirigiert und gemaßregelt wird – »Ich arbeite daran, mich diesem Einfluss zu entziehen« –, steht gleichzeitig in der Ablösungs-Auseinandersetzung mit dem eigenen 14-jährigen Sohn. »Da ist es oft recht schwierig für mich, das richtige Maß zu finden!« – Eine nette, leicht unsicher wirkende Frau Ende 30, die schwärmend von ihrer positiven Vaterbeziehung berichtet, hat Probleme damit, dass sich der 17-jährige Sohn so oft entzieht. »Früher haben wir uns so gut verstanden und heute kann ich ihn noch nicht mal zum Morgengruß in den Arm nehmen.«
Zum Abschluss dieser Beispiele ein Problem-Blitzlicht aus der Sicht des Nachwuchses: »Ich komme mit meiner Mutter nicht mehr klar. Im Grunde kann ich sie nicht mehr ernst nehmen. Meine Mitschülerinnen lachen schon über sie, wenn sie mich mal an der Schule abholt.« Auf die Nachfrage, welche Schwierigkeiten sie im Umgang mit der Mutter habe, schließlich sei dies für eine 15-jährige Tochter nichts Außergewöhnliches, sprudelte sie los: »Neulich hat sie sich mit ihren 41 Jahren sogar superhohe Plateaus gekauft. Über ihre wirklich kurzen Miniröcke und knappen Blusen könnte ich ja vielleicht noch hinwegsehen, wenn sie nicht so dicke Beine und Arme hätte. Und dann fängt sie einfach auf der Straße zu singen an oder fragt mich im Supermarkt laut zum Mithören einfach so, ob ich heute auch einen
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