Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
einige Orientierung gebende Schritte voraus zu sein. Dies können nach meiner Einschätzung nur Menschen, welche aus wohlverstandener Liebe handeln.
Solche Erziehungspersönlichkeiten werden Kinder und Jugendliche nicht zu Objekten der Erziehung machen, aber über das Subjektive hinausweisende Bezüge werden auch nicht ausgeblendet. So lässt sich Sinn verdeutlichen und ein Dialog darüber ermöglichen. Auf diese Weise kann auch die häufig deutlich werdende Diskrepanz zwischen Wort und Leben reduziert werden: einfühlsam, unmittelbar und glaubwürdig.
Heranwachsende haben viele Fragen, Unsicherheiten, Sehnsüchte, Enttäuschungen und Hoffnungen. Daher benötigen sie Orientierung und Beistand. Bezogen auf den Pluralismus in unserer hoch entwickelten Konsum- und Industriegesellschaft ergibt sich die Forderung, Werte-Vielfalt nicht zur Werte-Beliebigkeit verkommen zu lassen. Das heißt konkret: Erziehungsverantwortliche beziehen vom eigenen Wert- und Weltverständnis aus deutlich Stellung, um damit eine Einladung zu deren Übernahme offenkundig werden zu lassen, ohne im Falle der Nicht-Übernahme Sanktionen einzusetzen. Je differenzierter ein gesellschaftliches System ist, desto umfassender muss die Hilfestellung für ein Hineinfinden und Eigenständigwerden sein. Und diese wird keinesfalls durch die Überreichung eines Wert(e)-Papieres möglich sein, denn Werte werden durch Vorleben vermittelt.
Hierzu werden Menschen gebraucht, die eine neue inhaltlich-argumentative Qualität und eine deutliche Positionierung und Auseinandersetzungsbereitschaft im Umgang mit Kindern und Jugendlichen einbringen. Anbiederungsversuche sind ein Zeichen von Schwäche und Standpunktlosigkeit. Auch angstvolles Dramatisieren oder sich liberal gebende Bagatellisierung im Sinne von ›Es wird schon nicht so schlimm sein‹ werden der Situation nicht gerecht. Pädagogisch Handelnde können dann auch nicht mehr in der – wichtigen – Phase des ›Alles-Verstehens‹ stecken bleiben, da dies nur der Ausgangspunkt für eine situationsbezogene Wegverdeutlichung sein kann. Ebenfalls wäre die Rückzugsposition im Sinne von ›Das muss jeder selber wissen‹ aufzugeben, da sie im Kern eine pädagogische Bankrotterklärung ist. Denn wenn alle Menschen überblicken würden, um was es in dieser oder jener Situation geht, sähen viele Verhaltensweisen im Alltag anders aus.
Sicher muss jeder die Konsequenzen eigener Entscheidung tragen bzw. ertragen, selbst wenn er/sie davor weglaufen möchte. Werden die möglichen Folgen eines Verhaltens Jugendlichen jedoch im Vorhinein nachvollziehbar verdeutlicht, könnte dies ein wesentlicher Beweggrund für eine veränderte Entscheidung sein. Es würde gelernt, wie – vielleicht noch so erträumte und wohlige – Augenblickssituationen nicht gleichzeitig in Verantwortungslosigkeit enden müssen, Gefühl und Verstand in ihren eigenständigen Realitäten und Wirkungen besser eingeschätzt und Momentanes, Zurückliegendes und Kommendes miteinander verknüpft werden können. Findet eine solche Hilfestellung nicht statt, wird auch Trost oder Wundpflege nur Schalheit hervorrufen. Nicht Inkompetenz, sondern Mut zur Erziehung ist gefordert.
Um diese Grundsätze verwirklichen zu können, ist es notwendig, die Spannung zwischen ›So ist es‹ und ›So könnte/sollte es sein‹ im Jugendlichen und im Umgang mit diesem auszuhalten und zu nutzen. Damit würde einerseits die konkrete Situation des ›Hier und Jetzt‹ bejaht, gleichzeitig jedoch darüber hinausweisend die notwendige Zukunftsbezogenheit mit berücksichtigt, eingebunden in das Spannungsfeld individueller und sozialer Bezüge von Ich, Du und anderen .
Das Jahrhundert des Kindes hat Ellen Key kurz nach 1900 eingeläutet und die italienische Ärztin Maria Montessori unterstrich dieses Plädoyer wenige Jahre später durch ihr Buch Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter . Die Reformpädagogik in den 1920er-Jahren setzte sich für eine Schule und Erziehung ›vom Kinde aus‹ ein. Nicht ›kraftlose Wesen‹ oder ›leere Gefäße‹ sollten mit Wissen vollgestopft werden, sondern Stoffauswahl und methodische Vorgehensweise hatten einen ›geistigen Verkehr‹ mit Kindern zu ermöglichen. Diese Veränderungen in der Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges führten insgesamt zu einer ›neuen Sicht des Menschen‹, welche durch gegenseitiges ›Geben und Nehmen‹ geprägt war. 20 Auch die UN-Kinderkonvention hatte und hat das Ziel, weltweit die
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