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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eigene Wohnung war zu teuer, und Eltern waren im allgemeinen verläßlicher als eine Wohngemeinschaft. Patrick glaubte schon, daß Angie nicht mehr antworten würde, und ihre sanften Finger trugen bereits wieder Rouge auf seine Haut auf. Endlich holte sie einmal tief Luft und hielt den Atem an, als überlegte sie, was sie sagen sollte; dann stieß sie erneut einen Schwall fruchtiger Luft aus. Sie begann wieder, rasch auf ihrem Kaugummi zu kauen - ihre Atemzüge waren kurz und duftend. Wallingford war sich peinlich bewußt, daß sie sein Gesicht auf etwas anderes als unreine Haut und Falten musterte. »Soll das vielleicht 'ne Einladung sein oder was?« flüsterte Angie ihm zu. Sie blickte immer wieder zur offenen Tür der Maske hinüber, in der sie mit Patrick allein war. Die Frau, die Haare machte, war mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß gefahren; sie stand irgendwo auf dem Bürgersteig und rauchte eine Zigarette.
    »Sieh es doch mal so, Angie«, flüsterte Wallingford der aufgeregten, kurzatmigen jungen Frau zu. »Das hier ist eindeutig ein Fall von sexueller Belästigung, wenn du deine Karten richtig ausspielst.« Er klopfte sich innerlich dafür auf die Schulter, daß er auf eine Methode, gefeuert zu werden, gekommen war, an die Mary nicht gedacht hatte, aber Angie wußte nicht, daß er es ernst meinte; die Maskenbildnerin glaubte fälschlich, er albere nur herum. Und sie war, wie Wallingford zutreffend vermutet hatte, in ihn verschossen.
    »Ha!« sagte sie und schenkte ihm ein verspieltes Lächeln. Zum erstenmal konnte er die Farbe ihres Kaugummis sehen - er war lila. (Traube oder irgendeine synthetische Variante davon.) Sie hatte zur Pinzette gegriffen und schien auf eine Stelle zwischen seinen Augen zu starren. Während sie sich dichter über ihn beugte, atmete er ihren Geruch ein - ihr Parfüm, ihr Haar, den Kaugummi. Sie roch wunderbar, ein Duft, der irgendwie an ein Kaufhaus erinnerte.
    Im Spiegel konnte er die Finger seiner rechten Hand sehen; er spreizte sie so zielbewußt auf dem schmalen Streifen Fleisch zwischen ihrem Rockbund und dem hochgerutschten Sweater, wie er etwa die Tastatur eines Klaviers berührt hätte, ehe er zu spielen anfing. In diesem Moment kam er sich denn auch wie ein halb im Ruhestand lebender Maestro vor, der schon lange außer Übung ist, aber immer noch ein feines Händchen hat.
    Es gab in ganz New York keinen Anwalt, der sie nicht mit Vergnügen vertreten würde. Wallingford hoffte nur, daß sie ihm nicht mit der Pinzette das Gesicht verunstaltete.
    Statt dessen drückte Angie, als er ihre warme Haut berührte, so das Kreuz durch, daß sie sich gegen seine Hand preßte - oder vielmehr schmiegte. Mit der Pinzette zupfte sie ihm sanft ein verirrtes Augenbrauenhaar aus dem Nasenrücken. Dann küßte sie ihn mit leicht geöffnetem Mund auf die Lippen; er konnte ihren Kaugummi schmecken. Eigentlich wollte er so etwas sagen wie »Angie, Herrgott noch mal, du solltest mich verklagen!«. Aber er konnte die Hand nicht von ihr nehmen. Instinktiv schoben sich seine Finger unter ihren Sweater; sie glitten ihren Rücken hoch bis zum Verschluß ihres BHs. »Den Kaugummi finde ich gut«, sagte er, dessen früheres Ich mühelos die richtigen Worte fand. Wieder küßte sie ihn, und diesmal teilte sie mit ihrer kräftigen Zunge seine Lippen, dann seine Zähne.
    Als sie ihm ihren schlüpfrigen Kaugummiklumpen in den Mund schob, war er ganz kurz verblüfft. Einen beunruhigenden Moment lang glaubte er, er hätte ihr die Zunge abgebissen. Er war an diese Art von Vorspiel einfach nicht gewöhnt - er war noch nicht mit vielen Kaugummikauerinnen gegangen. Ihr nackter Rücken wand sich unter seiner Hand; ihre Brüste unter dem weichen Sweater strichen über seine Brust. In der Tür räusperte sich eine der Frauen aus dem Nachrichtenstudio. Das entsprach fast genau dem, was Wallingford gewollt hatte; er hatte gehofft, Mary Shanahan sähe ihn dabei, wie er Angie küßte und begrapschte, aber er zweifelte nicht daran, daß man Mary von dem Vorfall berichten würde, noch ehe er auf Sendung war. »Du hast noch fünf Minuten, Pat«, sagte die Frau aus dem Nachrichtenstudio zu ihm. Angie, die ihm ihren Kaugummi gelassen hatte, war noch immer dabei, ihren Pullover herunterzuzerren, als die Frau, die Haare machte, von ihrer Zigarettenpause zurückkam. Sie war eine schwergewichtige Schwarze, die nach Zimt-Rosinen-Toast roch und es sich zum Prinzip gemacht hatte, jedesmal Verzweiflung vorzutäuschen, wenn es nichts

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