Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
was der Verfasser »drei Sekunden Integrität in einer Woche voller Verkommenheit« nannte. Entgegen seinen Absichten schien Wallingford unersetzlicher denn je zu sein.
    Natürlich war Mary Shanahan am Ende der Freitagabendsendung nirgendwo zu finden; abwesend waren außerdem Wharton und Sabina. Zweifellos saßen sie in einer Besprechung. Während des Abschminkens demonstrierte Patrick seine körperliche Zuneigung zu Angie so deutlich, daß die Friseurin angewidert den Raum verließ. Außerdem achtete er darauf, erst dann mit Angie wegzugehen, als sich bei den Fahrstühlen ein kleines, aber höchst mitteilsames Grüppchen tuschelnder Frauen aus dem Nachrichtenstudio angefunden hatte.
    Aber war eine Nacht mit Angie wirklich das, was er wollte? Wie ließ sich ein sexuelles Abenteuer mit der etwas über zwanzig Jahre alten Maskenbildnerin als Fortschritt auf dem Weg zu seiner Besserung deuten? War das nicht eindeutig der alte Patrick Wallingford, der wieder seine Spielchen trieb? Wie oft kann ein Mensch seine sexuelle Vergangenheit wiederholen, ehe sie zu seinem eigentlichen Wesen wird? Wallingford jedoch fühlte sich, ohne das Gefühl auch nur sich selbst erklären zu können, wie ein neuer Mensch, und zwar einer auf der richtigen Spur. Er hatte - ungeachtet des Umweges, den er im Moment machte - auf seinem verschlungenen Weg nach Wisconsin ein Ziel vor Augen. Und was war mit dem Umweg von gestern nacht? Egal, diese Umwege waren bloß Vorbereitungen darauf, mit Mrs. Clausen zusammenzutreffen und ihr Herz zu gewinnen. Das jedenfalls redete sich Patrick ein.
    Er führte Angie in ein Restaurant in der Third Avenue, irgendwo in den Eighties, aus. Nach einem weinseligen Essen gingen sie zu Fuß zu Wallingfords Wohnung - Angie ein wenig wackelig. Wieder schob ihm die aufgeregte junge Frau ihren Kaugummi in den Mund. Dem schlüpfrigen Austausch folgte ein langer, heftiger Zungenkuß, nur Sekunden nachdem Patrick seine Wohnungstür auf- und gleich wieder abgeschlossen hatte.
    Der Kaugummi war eine neue Geschmacksrichtung, irgend etwas UltraCooles und Silbriges. Wenn Wallingford durch die Nase atmete, brannten ihm die Nasenlöcher; wenn er durch den Mund atmete, fühlte sich seine Zunge kalt an. Sobald sich Angie entschuldigte und ins Bad zurückzog, spuckte Patrick den Kaugummi in seine eine Hand. Die glänzend metallische Oberfläche des Klümpchens zitterte wie eine Quecksilberpfütze. Es gelang ihm, den Kaugummi wegzuwerfen und sich an der Küchenspüle die Hände zu waschen, ehe Angie mit nichts als einem seiner Handtücher am Leibe aus dem Badezimmer auftauchte und sich in seine Arme warf. Eine draufgängerische Frau, so daß ihm eine anstrengende Nacht bevorstand. Er würde nur schwer die Zeit finden, für Wisconsin zu packen.
    Außerdem waren da die Telefonanrufe, die die ganze Nacht von seinem Anrufbeantworter aufgezeichnet wurden. Patrick war dafür, ihn leise zu stellen, aber Angie bestand darauf, die Anrufe mitzuhören; für den Notfall hatte sie Patricks Telefonnummer an diverse Mitglieder ihrer Familie weitergegeben. Der erste Anruf aber kam von Patricks neuer Nachrichtenredakteurin Mary Shanahan.
    Er hörte die Hintergrundkakophonie der Frauen aus dem Nachrichtenstudio, die ausgelassene Fröhlichkeit, mit der sie feierten - dazu als Gegensatz den Bariton eines Kellners, der die »Tagesgerichte« herunterbetete -, ehe Mary ein Wort äußerte. Wallingford konnte sie sich vorstellen, über das Handy gebeugt, als wäre es etwas, was sie essen wollte. Bestimmt hielt sie eine ihrer feinknochigen Hände ans Ohr, die andere an den Mund. Sicher war ihr eine Strähne ihres blonden Haars ins Gesicht gefallen und verbarg womöglich eines ihrer saphirblauen Augen. Natürlich wußten die Frauen aus dem Nachrichtenraum, daß sie ihn anrief, ob sie es ihnen nun gesagt hatte oder nicht. »Das war ein mieser Trick, Pat«, begann Marys Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
    »Das ist ja Ms. Shanahan!« flüsterte Angie in Panik, als ob Mary sie hören könnte.
    »Ja, das ist sie«, flüsterte Patrick zurück. Die Maskenbildnerin wand sich auf ihm, der üppige Wust ihres pechschwarzen Haars verdeckte völlig ihr Gesicht. Wallingford konnte nur eines ihrer Ohren sehen, aber er schloß (aus dem Duft), daß ihr neuer Kaugummi in die Geschmacksrichtung Himbeer oder Erdbeer ging.
    »Kein Wort von dir, nicht einmal ein Glückwunsch«, fuhr Mary fort. »Na gut, damit kann ich leben, aber nicht mit diesem Weibsbild. Offenbar willst du mich

Weitere Kostenlose Bücher