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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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konnte; während er es aufhob und sich um die Hüften schlang, wartete sie mit auf den Boden gerichteter Lampe. Dann griff sie nach seiner einen Hand, und wieder folgte er ihr.
    Sie gingen zu dem kleinen Otto und schauten ihm beim Schlafen zu. Wallingford war nicht darauf gefaßt; er wußte nicht, daß es für manche Mütter wie Kino ist, einem Kind beim Schlafen zuzusehen. Als Mrs. Clausen sich auf eines der Einzelbetten setzte und ihren schlafenden Sohn anzustarren begann, setzte sich Patrick neben sie. Das mußte er - sie hatte seine Hand nicht losgelassen. Es war, als wohnten sie einem Schauspiel bei.
    »Dann wollen wir mal erzählen«, flüsterte Doris mit einer Stimme, die Wallingford noch nicht von ihr kannte - sie hörte sich an, als schäme sie sich. Sie drückte leicht seine Hand, nur für den Fall, daß er verwirrt war und sie mißverstanden hatte. Die Geschichte war für ihn, nicht für den kleinen Otto bestimmt.
    »Ich habe versucht, jemanden zu finden, jemand Neuen, meine ich«, sagte sie. »Ich bin mit ihm ausgegangen.«
    Bedeutete mit jemandem »ausgehen« auch in Wisconsin das, was Wallingford dahinter vermutete?
    »Ich habe mit jemandem geschlafen, mit dem ich nicht hätte schlafen sollen«, erklärte Mrs. Clausen.
    »Ach...«, entfuhr es Patrick; es war eine unwillkürliche Reaktion. Er lauschte auf den Atem des schlafenden Kindes, ohne ihn neben dem Geräusch der Gaslampe zu hören, das selbst einer Art Atem glich.
    »Es ist jemand, den ich schon lange kenne, allerdings in einem anderen Leben«, fuhr Doris fort. »Er ist ein bißchen jünger als ich«, fügte sie hinzu. Sie hielt noch immer Patricks eine Hand, hatte allerdings aufgehört, sie zu drücken. Er wollte ihr ebenfalls die Hand drücken - um ihr sein Mitgefühl zu zeigen, um sie zu unterstützen -, aber seine Hand fühlte sich wie anästhesiert an. (Er erkannte das Gefühl.) »Er war mit einer Freundin von mir verheiratet«, fuhr Mrs. Clausen fort. »Wir sind alle miteinander ausgegangen, als Otto noch am Leben war. Wir haben ständig was zusammen unternommen, wie das Paare so machen.« Patrick schaffte es, ihre Hand ganz leicht zu drücken. »Aber er hat sich von seiner Frau getrennt - das war, nachdem ich Otto verloren hatte«, erklärte Mrs. Clausen. »Und als er mich angerufen und gefragt hat, ob ich mit ihm ausgehe, habe ich nein gesagt - jedenfalls erst mal. Ich habe meine Freundin angerufen, bloß um sicherzugehen, daß die beiden sich auch wirklich scheiden lassen und sie keine Probleme damit hat, daß ich mit ihm ausgehe. Sie hat gesagt, es wäre okay, aber das stimmte nicht. Es war überhaupt nicht okay für sie, nachdem es passiert war. Und ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe ihn sowieso nicht gemocht. Jedenfalls nicht so.« Patrick mußte sich beherrschen, um nicht »Gut!« zu brüllen. »Also habe ich ihm gesagt, daß ich nicht mehr mit ihm ausgehe. Er hat es nicht tragisch genommen, wir sind immer noch befreundet, aber sie redet nicht mehr mit mir. Dabei war sie bei meiner Hochzeit die Brautjungfer, wenn du dir das vorstellen kannst.« Wallingford konnte, wenn auch nur auf der Grundlage eines einzigen Fotos. »Tja, das ist alles. Ich wollte dir das bloß erzählen«, sagte Mrs. Clausen. »Ich bin froh, daß du es mir erzählt hast«, brachte Patrick heraus, obwohl »froh« nicht annähernd an das heranreichte, was er empfand - rasende Eifersucht in Verbindung mit überwältigender Erleichterung. Sie hatte mit einem alten Freund geschlafen - das war alles! Daß es nicht funktioniert hatte, stimmte Wallingford mehr als froh; er fühlte sich in Hochstimmung. Er kam sich außerdem naiv vor. Ohne schön zu sein, war Mrs. Clausen eine der sexuell attraktivsten Frauen, die er je kennengelernt hatte. Natürlich riefen Männer sie an und baten sie, mit ihnen »auszugehen«. Warum hatte er das nicht vorausgesehen? Er wußte nicht, wo er anfangen sollte. Vielleicht fühlte er sich zu sehr davon bestärkt, daß Mrs. Clausen seine Hand mittlerweile noch fester hielt als zuvor; sie war wohl erleichtert darüber, daß er so verständnisvoll zugehört hatte.
    »Ich liebe dich«, begann er. Es freute ihn, daß Doris ihre Hand nicht wegzog, obwohl er spürte, wie ihr Griff sich lockerte. »Ich möchte mit dir und dem kleinen Otto zusammenleben. Ich möchte dich heiraten.« Nun wirkte sie ganz unbewegt, hörte einfach nur zu. Was sie dachte, konnte er nicht sagen.
    Sie sahen einander nicht ein einziges Mal an. Ihr Blick blieb weiterhin

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