Die vierte Hand
Clausen in ihrer Welt nicht zulassen. Außerdem wurde ihm klar, daß sie seinen Antrag tatsächlich ernst genommen hatte; Mrs. Clausen erwog alles ernsthaft. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ihr Jawort doch keine so entfernte Möglichkeit gewesen, wie er einmal gedacht hatte - er hatte die Sache bloß vermasselt.
Die Hände im Schoß verschränkt, saß sie etwas abseits von ihm auf dem schmalen Bett. Sie sah weder ihn noch den kleinen Otto an, sondern irgendeine undefinierbare, gewaltige Müdigkeit, mit der sie seit langem vertraut war und der sie - oft zu dieser Nachtstunde oder frühmorgens - schon oft ins Auge gestarrt hatte. »Ich sollte ein bißchen schlafen«, sagte sie nur.
Wenn ihr in die Ferne gerichteter Blick sich hätte messen lassen, hätte man vielleicht festgestellt, vermutete Patrick, daß sie durch die Wand starrte - auf das dunklere Rechteck an der Wand des anderen Zimmers, die Stelle bei der Tür, wo einmal ein Bild oder ein Spiegel gehangen hatte.
»Im anderen Zimmer... da hat anscheinend mal was an der Wand gehangen«, sagte er ohne Hoffnung, sie in ein Gespräch ziehen zu können. »Was war das?«
»Das war bloß ein Bierposter«, teilte sie ihm, etwas unerträglich Totes in der Stimme, ausdruckslos mit.
»Ach.« Wieder erfolgte seine Äußerung unwillkürlich, als reagierte er auf einen Schlag. Natürlich war es ein Bierposter gewesen; natürlich hatte sie keine Lust gehabt, es weiter anzuschauen.
Er streckte seine eine Hand aus, ließ sie aber nicht in ihren Schoß fallen, sondern strich mit den Fingerrücken leicht über ihren Bauch. »Du hast mal so ein Metallding im Bauchnabel gehabt, irgendein Schmuckstück«, wagte er sich vor. »Ich habe es nur einmal gesehen.« Daß das damals gewesen war, als sie ihn in Dr. Zajacs Praxis bestiegen hatte, ließ er unerwähnt. Doris Clausen war überhaupt nicht der Typ, der sich den Nabel piercen ließ!
Sie nahm seine Hand und hielt sie auf ihrem Schoß fest. Das war keine Geste der Ermutigung; sie wollte bloß nicht, daß er sie woanders anfaßte. »Angeblich war das ein Glücksbringer«, erklärte Doris. In dem Tonfall, in dem sie »angeblich« sagte, nahm Wallingford jahrelange Skepsis wahr. »Otto hat es in einem Tätowierungsstudio gekauft. Wir haben damals wegen der Unfruchtbarkeit alles probiert. Ich habe das Ding getragen, als ich schwanger werden wollte. Es hat nicht funktioniert, außer bei dir, und du hast es vermutlich nicht gebraucht.«
»Du trägst es also nicht mehr?«
»Ich will nicht mehr schwanger werden.«
»Ach.« Die Gewißheit, daß er sie verloren hatte, machte ihn krank.
»Ich sollte ein bißchen schlafen«, sagte sie erneut.
»Ich wollte dir eigentlich etwas vorlesen«, sagte er ihr, »aber wir können das auch ein andermal machen.«
»Was denn?« fragte sie.
»Na ja, eigentlich will ich es dem kleinen Otto vorlesen - wenn er älter ist. Ich wollte es dir jetzt vorlesen, weil ich mir überlegt habe, es ihm später vorzulesen.« Wallingford hielt inne. Außerhalb des Kontextes ergab diese Bemerkung ebensowenig Sinn wie alles andere, was er ihr erzählt hatte. Er kam sich albern vor. »Was denn?« fragte sie erneut.
»Klein Stuart«, sagte er und wünschte sich, er hätte erst gar nicht davon angefangen.
»Ach, das Kinderbuch. Es handelt von einer Maus, stimmt's?« Er nickte, schämte sich. »Klein Stuart hat ein besonderes Auto«, fügte sie hinzu. »Er zieht los und sucht nach einem Vogel. Es ist so eine Art On the Road über eine Maus, stimmt's?«
So hätte Wallingford es nicht formuliert, aber er nickte. Daß Mrs. Clausen On the Road gelesen oder zumindest davon gehört hatte, überraschte ihn.
»Ich muß schlafen«, wiederholte sie. »Und für den Fall, daß ich nicht schlafen kann, habe ich mir selbst ein Buch mitgebracht.« Patrick unterdrückte den Impuls, etwas zu sagen, aber nur mit Mühe. So vieles schien jetzt verloren - und das um so mehr, weil er nicht gewußt hatte, daß es möglich gewesen wäre, sie nicht zu verlieren. Zumindest war er so klug, nicht mit der Geschichte herauszuplatzen, wie er und Sarah Williams, oder wie immer sie hieß, einander (nackt) Klein Stuart und Wilbur und Charlotte vorgelesen hatten. Aus dem Kontext gerissen - möglicherweise aber auch in jedem beliebigen Kontext -, hätte diese Geschichte Wallingfords Merkwürdigkeit nur noch unterstrichen. Der Zeitpunkt, zu dem es von Vorteil für ihn gewesen wäre, ihr diese Geschichte zu erzählen, war längst verpaßt; jetzt wäre
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