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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Nacht«, begann Wallingford. »Ich war einfach bloß geil.«
    Welche Formulierungskunst! (Wenn das keine Vernachlässigung des Kontextes war!)
    Er erzählte Doris von den Anrufen der diversen Mitglieder von Angies besorgter Familie, aber das verwirrte Mrs. Clausen nur - sie dachte, er meinte, Angie wäre minderjährig. (Die ganze Kaugummikauerei trug nicht gerade zur Erhellung bei.) »Angie ist ein gutherziger Mensch«, sagte Patrick immer wieder, was Doris den Eindruck vermittelte, die Maskenbildnerin wäre womöglich geistig zurückgeblieben. »Nein, nein!« protestierte Wallingford. »Angie ist weder minderjährig noch geistig zurückgeblieben, sie ist einfach nur... na ja...« »Ein Püppchen?« fragte Mrs. Clausen. »Nein, nein! Nicht direkt«, protestierte Patrick loyalerweise. »Vielleicht hast du gedacht, sie ist möglicherweise der allerletzte Mensch, mit dem du je schläfst - das heißt, falls ich ja sagen würde«, überlegte Doris. »Und da du nicht gewußt hast, ob ich ja oder nein sagen würde, gab es keinen Grund, nicht mit ihr zu schlafen.« »Ja, vielleicht«, erwiderte Wallingford schwächlich.
    »Na ja, das ist nicht so schlimm«, meinte Mrs. Clausen. »Das kann ich verstehen. Angie kann ich verstehen, meine ich.« Zum erstenmal traute er sich, sie anzusehen, aber sie hielt den Blick abgewandt - sie starrte Otto junior an, der immer noch selig schlief. »Mary zu verstehen fällt mir schon schwerer«, fügte Doris hinzu. »Ich weiß nicht, wie du daran denken konntest, mit mir und dem kleinen Otto zu leben, und dabei versuchen, diese Frau zu schwängern. Falls sie tatsächlich schwanger ist und das Baby ist von dir, kompliziert das dann nicht alles für uns? Für dich und mich und Otto, meine ich.«
    »Doch, ja«, pflichtete Patrick ihr bei. Wieder dachte er: Was habe ich mir nur dabei gedacht? War auch das ein Kontext, den er übersehen hatte? »Was in Mary vorging, kann ich verstehen«, fuhr Mrs. Clausen fort. Plötzlich packte sie seine eine Hand mit beiden Händen und sah ihn so forschend an, daß er sich nicht abwenden konnte. »Wer wollte kein Kind von dir?« Sie biß sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf; sie versuchte, nicht laut und wütend zu werden, jedenfalls nicht in dem Zimmer mit ihrem schlafenden Kind. »Du bist wie ein hübsches Mädchen, das keine Ahnung hat, wie hübsch es ist. Du hast keinen Schimmer, wie du wirkst. Du bist nicht etwa deshalb gefährlich, weil du so gut aussiehst - du bist gefährlich, weil du nicht weißt, wie gut du aussiehst! Und du bist gedankenlos.« Das Wort traf ihn wie eine Ohrfeige. »Wie kannst du an mich gedacht und zugleich bewußt versucht haben, eine andere zu schwängern? Du hast nicht an mich gedacht! Jedenfalls nicht in diesem Moment.«
    »Aber du warst bloß eine... ganz entfernte Möglichkeit« war alles, was Wallingford herausbrachte. Er wußte, was sie gesagt hatte, stimmte. Wie dumm er war! Er hatte fälschlich geglaubt, er könne ihr die Geschichte seiner jüngsten sexuellen Eskapaden erzählen und sie ihr so verständlich machen, wie ihre weitaus sympathischere Geschichte ihm gewesen war. Denn ihre Beziehung war, obwohl ein Fehler, wenigstens real gewesen; sie hatte versucht, sich mit einem alten Freund zu verbinden, der zu dem Zeitpunkt ebenso frei gewesen war wie sie. Und es hatte nicht funktioniert - das war alles.
    Neben Mrs. Clausens einem Fehlgriff war Wallingfords Welt von sexueller Ungezügeltheit. Er schämte sich allein schon für sein schludriges Denken.
    Daß Doris von ihm enttäuscht war, fiel ebensosehr ins Auge wie ihr vom Schwimmen noch nasses und wirres Haar. Ihre Enttäuschung war so deutlich sichtbar wie die dunklen Ringe unter ihren Augen oder das, was er in dem lila Badeanzug von ihrem Körper wahrgenommen und was er im Mondlicht und im See nackt von ihr gesehen hatte. (Sie hatte ein wenig zugenommen oder aber das Gewicht, das sie während der Schwangerschaft angesetzt hatte, nicht wieder verloren.) Was er, wie ihm klar wurde, am meisten an ihr liebte, ging weit über ihre sexuelle Freimütigkeit hinaus. Sie meinte alles ernst, was sie sagte, und war zielbewußt in allem, was sie tat. Sie war Mary Shanahan so unähnlich, wie es eine Frau nur sein konnte: sie war geradeheraus und praktisch veranlagt, sie war vertrauensvoll und vertrauenswürdig; und wenn Mrs. Clausen einem ihre Aufmerksamkeit schenkte, dann schenkte sie sie ganz.
    In Patricks Welt herrschte sexuelle Anarchie. Eine solche Anarchie würde Doris

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