Die vierte Hand
es nicht gut gewesen.
Jetzt spielte er einfach nur auf Zeit, weil er sie nicht verlieren wollte. Das wußten sie beide. »Was für ein Buch hast du denn mitgebracht?« fragte er.
Mrs. Clausen ergriff diese Gelegenheit, um von ihrem Platz neben ihm auf dem Bett aufzustehen. Sie ging zu ihrer offenen Segeltuchtasche, die mehreren anderen kleinen Taschen mit den Babysachen ähnelte. Es war die einzige Tasche, die sie für sich selbst mitgebracht hatte, und sie hatte sich noch nicht die Mühe gemacht (oder die Zeit gehabt), sie auszupacken.
Sie fand das Buch unter ihrer Unterwäsche. Sie reichte es ihm, als wäre sie zu müde, um darüber zu reden. (Wahrscheinlich war sie das auch.) Es war Der englische Patient, ein Roman von Michael Ondaatje. Wallingford hatte ihn nicht gelesen, aber er hatte den Film gesehen. »Es war der letzte Film, den ich mit Otto gesehen habe, bevor er gestorben ist«, erklärte Mrs. Clausen. »Er hat uns beiden gefallen. Mir hat er so gut gefallen, daß ich unbedingt das Buch lesen wollte. Aber ich habe es bis jetzt aufgeschoben. Ich wollte nicht an den letzten Film erinnert werden, den ich mit Otto gesehen habe.«
Patrick Wallingford senkte den Blick auf den Englischen Patienten. Sie las ein ausgewachsenes literarisches Werk, und er hatte vorgehabt, ihr Klein Stuart vorzulesen. In wie vieler Hinsicht würde er sie eigentlich noch unterschätzen?
Daß sie im Kartenverkauf für die Green Bay Packers gearbeitet hatte, schloß nicht aus, daß sie Literatur las, obwohl er (zu seiner Schande) von dieser Annahme ausgegangen war.
Er erinnerte sich, daß er den Film Der englische Patient gemocht hatte. Seine Exfrau hatte gesagt, der Film sei besser als das Buch. Daß er Marilyns Urteil über so ziemlich alles anzweifelte, fand seine Bestätigung, als sie eine Bemerkung über den Roman machte, die Wallingford, wie er sich entsann, in einer Besprechung gelesen hatte. Der Film, hatte sie gesagt, sei besser, weil der Roman »zu gut geschrieben« sei. Daß ein Buch zu gut geschrieben sein konnte, war eine Vorstellung, die nur ein Kritiker - oder Marilyn - haben konnte.
»Ich habe es nicht gelesen«, sagte Wallingford nur zu Mrs. Clausen, die das Buch in ihre offene Tasche, auf die Unterwäsche, zurücklegte. »Es ist gut«, sagte Doris. »Ich lese es ganz langsam, weil es mir so gut gefällt. Ich glaube, es gefällt mir besser als der Film, aber ich versuche, nicht an den Film zu denken.« (Das hieß natürlich, daß es in dem Film keine einzige Szene gab, die sie je vergessen würde.) Was gab es noch zu sagen? Wallingford mußte pinkeln. Erstaunlicherweise nahm er davon Abstand, Mrs. Clausen das mitzuteilen - er hatte für eine Nacht genug gesagt. Sie leuchtete ihm mit der Taschenlampe auf den Flur hinaus, damit er sich nicht im Dunkeln zu seinem Zimmer tasten mußte.
Er war zu müde, um die Gaslampe anzuzünden. Er nahm die Taschenlampe, die er auf der Kommode fand, und ging die steile Treppe hinunter. Der Mond war untergegangen; mittlerweile war es viel dunkler. Bis zum ersten Morgendämmer konnte es nicht mehr weit sein. Patrick stellte sich zum Pinkeln hinter einen Baum, obwohl niemand da war, der ihn hätte sehen können. Bis er fertig war, hatten ihn die Moskitos gefunden. Rasch folgte er dem Strahl seiner Taschenlampe zum Bootshaus zurück.
Im Zimmer von Mrs. Clausen und dem kleinen Otto war es dunkel, als Wallingford leise an der offenen Tür vorbeiging. Ihm fiel ein, daß sie gesagt hatte, sie schlafe niemals bei brennendem Gaslicht. Wahrscheinlich waren die Propangaslampen durchaus sicher, aber eine brennende Lampe war nun einmal ein Feuer - es machte sie so nervös, daß sie nicht schlafen konnte.
Wallingford ließ seine Zimmertür ebenfalls offen. Er wollte es hören, wenn Otto junior aufwachte. Vielleicht würde er anbieten, auf das Kind aufzupassen, damit Doris weiterschlafen konnte. Ein Kind zu beschäftigen konnte ja wohl nicht so schwer sein. War ein Fernsehpublikum nicht anspruchsvoller? Mehr Gedanken machte er sich nicht darüber. Endlich nahm er das um seine Taille geschlungene Handtuch ab. Er zog Boxershorts an und schlüpfte ins Bett, doch ehe er die Taschenlampe ausmachte, prägte er sich ein, wo sie lag, falls er sie im Dunkeln finden mußte. (Er ließ sie neben Mrs. Clausens Seite des Bettes auf dem Boden liegen.) Nun, da der Mond untergegangen war, herrschte eine fast völlige Finsternis, die seinen Aussichten bei Mrs. Clausen ähnelte. Patrick vergaß, seine Vorhänge
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