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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dem Begleitbrief zu den Fotos interpretieren sollte - besonders die Nüchternheit, mit der sie berichtete, sie habe zwei Fotos von dem kleinen Otto gemacht, wie er in den Armen seines Vaters schlief, und eines davon behalten. Der Ton ihres Briefs, den Wallingford zunächst boshaft gefunden hatte, war außerdem zweideutig. Doris hatte geschrieben: Wie das Beiliegende zeigt, hast du das Potential zu einem guten Vater. Nur das Potential? Patrick war gekränkt. Gleichwohl las er den Englischen Patienten in der inbrünstigen Hoffnung, eine Passage zu finden, auf die er sie aufmerksam machen könnte - vielleicht eine, die sie angestrichen hatte oder die sie beide mochten.
    Als Wallingford Mrs. Clausen anrief, um sich für die Fotos zu bedanken, meinte er, eine solche Passage gefunden zu haben. »Mir gefällt die Stelle mit der ›Liste der Wunden‹, besonders als sie ihn mit der Gabel sticht. Erinnerst du dich daran? ›Die Gabel, die hinten in seine Schulter eindrang und Stichspuren hinterließ, von denen der Arzt vermutete, sie stammten von einem Fuchs.‹« Doris am anderen Ende blieb stumm. »Hat dir die Stelle nicht gefallen?« fragte Patrick. »Ich möchte lieber nicht an deine Bißspuren und die anderen Verletzungen erinnert werden«, sagte sie. »Ach.«
    Wallingford las den Englischen Patienten trotzdem weiter. Es kam lediglich darauf an, den Roman sorgfältiger zu lesen; dennoch schlug er alle Bedenken in den Wind, als er zu der Stelle kam, wo Almasy von Katharine sagt: »Sie war viel begieriger nach Veränderung, als ich erwartet hatte.«
    Genau diesen Eindruck hatte Patrick von Mrs. Clausen als Liebhaberin gewonnen - sie war auf eine Weise unersättlich gewesen, die ihn erstaunte. Er rief sie sofort an und vergaß dabei, daß es in New York sehr spät in der Nacht war; in Green Bay war es nur eine Stunde früher. Angesichts von Ottos Zeiten ging Doris normalerweise früh zu Bett. Sie klang, als wäre sie nicht ganz bei sich, als sie abnahm. Patrick entschuldigte sich sofort. »Tut mir leid. Du hast schon geschlafen.« »Schon gut. Was ist denn?«
    »Es ist eine Stelle im Englischen Patienten, aber ich kann dir auch ein andermal davon erzählen. Du kannst mich morgen vormittag anrufen, so früh, wie du willst. Bitte weck mich!« bat er sie. »Lies mir die Stelle vor.«
    »Es ist bloß etwas, was Almasy über Katharine sagt -« »Na los. Lies vor.«
    Er las: »›Sie war viel begieriger nach Veränderung, als ich erwartet hatte.‹« So aus dem Kontext gerissen fand Wallingford die Passage plötzlich pornographisch, aber er vertraute darauf, daß Mrs. Clausen sich an den Kontext erinnerte.
    »Ja, die Stelle kenne ich«, sagte sie emotionslos. Vielleicht schlief sie noch halb.
    »Na ja...«, begann Wallingford.
    »Ich denke, ich war viel begieriger, als du erwartet hast. Ist es das?« fragte Doris. (So, wie sie es sagte, hätte sie genausogut »Ist das alles?« sagen können.)
    »Ja«, antwortete Patrick. Er hörte sie seufzen.
    »Also...«, begann Mrs. Clausen. Dann schien sie sich das, was sie sagen wollte, anders zu überlegen. »Es ist wirklich zu spät zum Telefonieren«, war ihr einziger Kommentar.
    Worauf Wallingford nichts anderes zu sagen blieb als »Tut mir leid.« Er würde weiterlesen und weiterhoffen müssen.
    Unterdessen zitierte Mary Shanahan ihn in ihr Büro - allerdings nicht, wie Patrick rasch klar wurde, um ihm mitzuteilen, ob sie schwanger war oder nicht. Mary hatte etwas anderes auf dem Herzen. Zwar war Wallingfords Vorstellung von einem neu auszuhandelnden Vertrag von mindestens drei Jahren Geltungsdauer nicht nach dem Geschmack des Nachrichtensenders - nicht einmal, wenn Wallingford den Moderatorenstuhl räumte und wieder als Reporter arbeitete -, aber man wollte wissen, ob Wallingford »ab und zu« Aufträge als Sonderkorrespondent akzeptieren würde.
    »Heißt das, ich soll mich jetzt peu a peu von dem Moderatorenjob verabschieden?« fragte Patrick.
    »Wenn du einverstanden bist, würden wir deinen Vertrag neu aushandeln«, fuhr Mary fort, ohne seine Frage zu beantworten. »Natürlich würdest du weiter dein jetziges Gehalt beziehen.« Daß sie ihm keine Gehaltserhöhung anbot, klang aus ihrem Mund wie etwas Positives. »Ich glaube, wir reden von einem Zweijahresvertrag.« Sie legte sich nicht gerade verbindlich darauf fest, und ein Zweijahresvertrag hatte seiner derzeit gültigen Vereinbarung nur magere sechs Monate voraus. Die ist vielleicht ein Schätzchen! dachte Wallingford, doch er

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