Die vierte Hand
schon während der Aufwärmphase vor Spielbeginn Schauplatz einer urzeitlich wirkenden Szene: die grün und golden bemalten Gesichter, die gelben Schaumstoffdinger, die wie riesige, biegsame Penisse aussahen, und die Verrückten mit riesigen Käseecken als Kopfbedeckungen - die Cheeseheads! Wallingford merkte, daß er nicht in New York war. Sie gingen die lange, steile Treppe hinunter. Ihre Plätze waren an der 4O-Yard-Linie, auf halber Höhe der Tribüne; die beiden befanden sich immer noch auf der gleichen Seite des Platzes wie die Pressekabine. Patrick folgte Doris an stämmigen, seitwärts gedrehten Knien vorbei zu ihren Plätzen. Ihm dämmerte, daß sie unter Leuten saßen, die sie kannten - nicht nur Mrs. Clausen, sondern auch ihn, Wallingford. Und sie kannten ihn nicht etwa deshalb, weil er berühmt war - nicht in Ottos Mütze -, sondern weil sie ihn erwarteten. Patrick ging plötzlich auf, daß er mehr als die Hälfte der Fans in seiner unmittelbaren Umgebung bereits kennengelernt hatte. Es waren Clausens! Er erkannte ihre Gesichter aufgrund der unzähligen Fotos, die in dem Cottage am See an die Wände der Haupthütte gepinnt waren. Die Männer klopften ihm auf die Schulter; die Frauen berührten ihn am Arm, dem linken. »Na, wie geht's?« Wallingford erkannte den Sprecher an seinem durchgedrehten Gesichtsausdruck auf dem mit einer Sicherheitsnadel an der Plüschauskleidung des Glaskastens befestigten Foto. Es war Donny, der Adlermörder; seine eine Gesichtshälfte war maisfarben, die andere im allzu lebhaften Grün einer unmöglichen Krankheit bemalt.
»Ich habe Sie heute in den Nachrichten vermißt«, sagte eine freundliche Frau. Auch an sie erinnerte sich Patrick von einem Foto; sie war eine der frischgebackenen Mütter gewesen, die mit ihrem Neugeborenen in einem Klinikbett lag.
»Ich wollte einfach das Spiel nicht verpassen«, sagte Wallingford zu ihr. Er spürte, wie Doris ihm die Hand drückte; bis jetzt hatte er gar nicht gemerkt, daß sie sie hielt. Vor allen anderen! Aber sie wußten schon Bescheid - lange vor Wallingford. Sie hatte es ihnen schon gesagt. Sie hatte ihn akzeptiert! Er versuchte, sie anzusehen, aber sie hatte die Kapuze ihres Parkas aufgesetzt. So kalt war es nicht; sie versteckte bloß ihr Gesicht vor ihm.
Er setzte sich, ohne ihre Hand loszulassen, neben Mrs. Clausen. Sein handloser Arm wurde von einer älteren Frau zu seiner Linken ergriffen. Sie war ebenfalls eine Mrs. Clausen, eine viel üppigere Mrs. Clausen - die Mutter des verstorbenen Otto, die Großmutter des kleinen Otto, Doris' ehemalige Schwiegermutter. (Wahrscheinlich sollte man nicht von »ehemalig« sprechen, dachte Patrick.) Er lächelte die üppige Frau an. Sie war im Sitzen ebenso groß wie er und zog ihn an seinem Arm zu sich heran, damit sie ihn auf die Wange küssen konnte. »Wir freuen uns alle sehr, Sie zu sehen«, sagte sie. »Doris hat uns Bescheid gesagt.« Sie lächelte beifällig.
Mir hätte Doris ruhig auch Bescheid sagen können! dachte Wallingford, doch als er Doris ansah, war ihr Gesicht noch immer in der Kapuze versteckt. Nur die Heftigkeit, mit der sie seine Hand festhielt, verriet ihm mit Sicherheit, daß sie ihn akzeptiert hatte. Zu seinem Erstaunen hatten sie das alle.
Vor dem Spiel wurde eine Schweigeminute eingelegt, von der Wallingford annahm, sie gelte den zweihundertsiebzehn Todesopfern des Absturzes von EgyptAir 990, aber er hatte nicht aufgepaßt. Die Schweigeminute galt Walter Payton, der mit fünfundvierzig an den Folgen einer Lebererkrankung gestorben war. Payton war die meisten Yards in der Geschichte der NFL gelaufen.
Beim Kickoff betrug die Temperatur sieben Grad. Der Nachthimmel war klar. Der Wind wehte mit einer Geschwindigkeit von siebenundzwanzig Stundenkilometern aus westlicher Richtung und frischte in Böen auf achtundvierzig Stundenkilometer auf. Vielleicht machten die Böen Favre zu schaffen. In der ersten Hälfte warf er zwei Interceptions; bis zum Spielende hatte er vier geworfen. »Ich habe dir ja gesagt, er verkrampft«, sagte Doris viermal und versteckte sich die ganze Zeit unter ihrer Kapuze.
Während der Vorstellung der Mannschaften hatten die Zuschauer Mike Holmgren, dem früheren Trainer der Packers, zugejubelt. Favre und Holmgren hatten sich auf dem Platz umarmt. (Sogar Patrick Wallingford hatte mitbekommen, daß Lambeau Field an der Kreuzung des Mike Holmgren Way mit der Vince Lombardi Avenue liegt.) Holmgren war gut vorbereitet nach Hause gekommen.
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