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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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kaum bemerkenswert, daß nicht jeder Medizinethiker dem beipflichtete. (»Die Hand ist nicht lebensnotwendig«, wie die Times es formulierte.)
    Der Leiter des Chirurgenteams der Operation in Louisville machte, was die transplantierte Hand anging, auf den mittlerweile bekannten Sachverhalt aufmerksam: Es bestehe lediglich »eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, daß sie ein Jahr übersteht, und danach wissen wir es schlicht und einfach nicht«. Er war schließlich Handchirurg; natürlich sprach er, wie Dr. Zajac auch, davon, wie »sie«, sprich die Hand, es überstand.
    Im Bewußtsein, daß Patrick noch immer in einem Bostoner Krankenhaus lag, interviewte sein Nachrichtensender einen Sprecher von Schatzman, Gingeleskie, Mengerink, Zajac & Partner. Bei dem sogenannten Sprecher mußte es sich Zajacs Meinung nach um Mengerink handeln, denn die Erklärung, die er abgab, war zwar korrekt, zeugte jedoch von einer typischen Gefühllosigkeit gegenüber Wallingfords jüngst erlittenem Verlust. Sie lautete: »Tierexperimente haben gezeigt, daß Abstoßungsreaktionen selten vor Ablauf von sieben Tagen erfolgen und in neunzig Prozent der Fälle innerhalb der ersten drei Monate eintreten«, was bedeutete, daß Patricks Abstoßungsreaktion nicht mit der von Tieren in Einklang stand.
    Doch Wallingford fühlte sich von der Erklärung nicht verletzt. Er wünschte Matthew David Scott von ganzem Herzen alles Gute. Natürlich hätte er möglicherweise eine stärkere Affinität mit der allerersten Handtransplantation der Welt empfunden, weil sie, wie die seine, gescheitert war. Sie war 1964 in Ecuador durchgeführt worden; zwei Wochen danach hatte der Empfänger die Spenderhand abgestoßen. »Damals stand nur eine primitive Antiabstoßungs-Therapie zur Verfügung«, merkte die Times an. (Die Immunsuppressorien, die heutzutage standardmäßig bei Herz-, Leber- und Nierentransplantationen eingesetzt werden, gab es 1964 noch nicht.)
    Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zog Patrick Wallingford umgehend wieder nach New York, wo seine Karriere einen gewaltigen Aufschwung nahm. Man machte ihn zum Moderator der Abendnachrichten; seine Beliebtheit erreichte ungeahnte Höhen. Einst hatte er mit leisem Spott die Art von Katastrophen kommentiert, wie sie ihm selbst zugestoßen war; bislang hatte er sich so verhalten, als gäbe es schlicht deshalb weniger Mitgefühl für den bizarren Tod, den bizarren Verlust, das bizarre Leid, weil sie bizarr waren. Mittlerweile wußte er, daß das Bizarre alltäglich und deshalb überhaupt nicht bizarr war. Es war alles Tod, alles Verlust, alles Leid - ganz gleich, wie dumm. Als Moderator gelang es ihm irgendwie, das zu vermitteln, so daß es den Leuten trotz des unbestreitbar Schlimmen ein klein wenig besserging. Doch was Wallingford vor einer Fernsehkamera fertigbrachte, konnte er im sogenannten wirklichen Leben nicht wiederholen. Am offensichtlichsten wurde das bei Mary Soundso - es gelang ihm partout nicht, zu erreichen, daß es ihr auch nur ein kleines bißchen gutging. Sie hatte eine verbittert ausgefochtene Scheidung hinter sich, ohne sich klarzumachen, daß dergleichen selten anders abläuft. Sie war nach wie vor kinderlos. Und sie hatte sich zwar zur gewieftesten Frau im New Yorker Nachrichtenstudio gemausert, war aber nicht mehr so nett wie früher. Ihr Verhalten hatte etwas Unmutiges; ihre Augen, in denen Wallingford zuvor nur Aufrichtigkeit und ungeheure Verletzlichkeit wahrgenommen hatte, zeigten nun Anzeichen von Gereiztheit, Ungeduld und Gerissenheit - alles Eigenschaften, die die anderen Frauen im Nachrichtenstudio fuderweise besaßen. Es machte Wallingford traurig, zu sehen, wie Mary auf deren Niveau herunterkam - oder erwachsen wurde, wie die anderen Frauen es zweifellos nennen würden.
    Trotzdem wollte sich Wallingford mit ihr anfreunden - das war wirklich alles, was er wollte. Zu diesem Zweck ging er einmal in der Woche mit ihr essen. Aber sie trank jedesmal zuviel, und wenn Mary trank, wandte sich das Tischgespräch dem Thema zu, das Wallingford unbedingt zu vermeiden suchte - nämlich, warum er nicht mit ihr schlief. »Bin ich dermaßen unattraktiv für dich?« begann sie normalerweise. »Du bist nicht unattraktiv für mich, Mary. Du bist eine sehr gutaussehende Frau.«
    »Ja, ganz bestimmt.« »Bitte, Mary -«
    »Ich verlange ja nicht von dir, daß du mich heiratest«, sagte Mary dann etwa. »Bloß ein Wochenende irgendwo - bloß eine Nacht, Herrgott! Versuch's doch mal!

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