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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und riß sich das kleine Mikro vom Revers.
    Am Ende war er dann wieder einhändig, ohne künstliche Hilfsmittel. »Für die internationalen Rund-um-die-Uhr-Nachrichten verabschiedet sich Patrick Wallingford. Gute Nacht, Doris«, schloß er jedesmal und winkte dabei mit seinem Stumpf. »Gute Nacht, mein kleiner Otto.« Es dauerte lange, bis Patrick sich wieder auf Beziehungssuche machte. Als er es versuchte, enttäuschte ihn das dabei vorherrschende Tempo - es kam ihm entweder zu schnell oder zu langsam vor. Er fühlte sich außer Tritt, also hörte er ganz damit auf. Ab und zu hatte er eine Bettgeschichte, wenn er verreiste, doch nun, da er Moderator war und nicht mehr Sonderkorrespondent, reiste er weniger als früher. Außerdem kann man eine Bettgeschichte nicht als »Beziehung« bezeichnen; Wallingford selbst hätte bezeichnenderweise auf jede Bezeichnung verzichtet. Jedenfalls war nichts mit der Vorfreude vergleichbar, die er empfunden hatte, wenn Mrs. Clausen sich auf die Seite, von ihm weg, drehte und sich seine (oder war es Ottos?) Hand zuerst gegen die Hüfte und dann gegen den Bauch drückte, wo das ungeborene Kind darauf wartete, ihn zu treten. Nichts konnte es damit oder mit dem Geschmack ihres Nackens oder dem Geruch ihres Haars aufnehmen.
    Patrick Wallingford hatte zweimal seine linke Hand verloren, aber er hatte eine Seele gewonnen. Und zwar dadurch, daß er Mrs. Clausen liebte und verloren hatte. Daß er sich zugleich nach ihr sehnte und ihr nichts als Glück wünschte; daß er seine linke Hand zurückbekommen und wieder verloren hatte. Daß er wollte, sein Kind wäre Otto Clausens Kind, und das fast so sehr, wie Doris es gewollt hatte; daß er, wenn auch unerwidert, sowohl Otto junior als auch die Mutter des Kleinen liebte. So groß war der Schmerz in Patricks Seele, daß man ihn sehen konnte - sogar im Fernsehen. Nicht einmal der verwirrte Doorman konnte ihn jetzt noch mit Paul O'Neill verwechseln.
    Er war noch immer der Löwenmann, aber irgend etwas in ihm hatte sich über das Image des Verstümmelten erhoben; er war noch immer der Katastrophenmann, aber er moderierte die Abendnachrichten mit neugefundener Autorität. Nun endlich beherrschte er den Blick, den er zur Cocktailstunde in Bars geübt hatte, wenn er sich leid tat. Der Blick besagte immer noch, Bemitleidet mich, nur daß Patricks Traurigkeit nun nicht mehr unnahbar war.
    Doch das Gedeihen seiner Seele beeindruckte Wallingford nicht. Es mochte für andere wahrnehmbar sein, aber was spielte das für eine Rolle? Doris Clausen hatte er nun mal nicht.

9
Wallingford lernt eine Sympathisantin kennen
    Unterdessen war eine attraktive, fotogene Frau, die hinkte, soeben sechzig geworden. Als Teenager und ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie lange Röcke oder Kleider getragen, um ihr verkümmertes Bein zu kaschieren. Sie war in ihrer Heimatstadt der letzte Mensch gewesen, der an Kinderlähmung erkrankte; für sie kam die Salk-Impfung zu spät. Sie schrieb schon fast so lange, wie sie unter der Verunstaltung litt, an einem Buch mit dem provozierenden Titel Wie ich um ein Haar keine Kinderlahmung gekriegt hätte. Das Ende des Jahrhunderts eignete sich nach ihren Worten »so gut wie jeder andere Zeitpunkt«, um das Manuskript bei mehr als einem Dutzend Verlagen einzureichen, aber alle lehnten das Buch ab.
    »Pech hin oder her, Kinderlähmung oder sonstwas, das Buch ist einfach nicht sehr gut geschrieben«, gestand die Frau mit dem Hinken und dem verkümmerten Bein Patrick vor der Kamera. Sie sah umwerfend aus, wenn sie saß. »Es ist bloß so, daß alles in meinem Leben passiert ist, weil ich diesen verdammten Impfstoff nicht gekriegt habe. Ich habe statt dessen Kinderlähmung gekriegt.«
    Natürlich fand sie nach dem Interview mit Wallingford rasch einen Verlag und hatte praktisch über Nacht auch einen neuen Titel: Ich habe statt dessen Kinderlähmung gekriegt. Jemand schrieb das Buch für sie um, und jemand anders machte einen Film daraus - die Hauptrolle spielte eine Schauspielerin, die der Frau mit dem Hinken und dem verkümmerten Bein überhaupt nicht ähnlich sah, außer daß sie ebenfalls attraktiv und fotogen war. Derlei konnte ein Fernsehinterview mit Wallingford bewirken.
    Ihm entging auch keineswegs, welche Ironie darin lag, daß die ganze Welt zugesehen hatte, wie er seine linke Hand verlor. Zu den Höhepunkten des Jahrhunderts, die wie für das Fernsehen gemacht waren, zählte stets auch die Löwe-frißt-Hand-Episode. Doch als er die

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