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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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›Charles‹ war es so still und kühl wie in einer Krypta; er legte sich aufs Bett und versuchte, sich das Schlimmste auszumalen, ehe er den Fernseher anmachte. Er dachte an jfk jr.s ältere Schwester Caroline. Wegen ihrer Unnahbarkeit gegenüber der Presse hatte Patrick sie stets bewundert. Das Sommerhaus, das Wallingford in Bridgehampton gemietet hatte, lag in der Nähe von Sagaponack, wo Caroline Kennedy Schlossberg mit ihrem Mann und ihren Kindern den Sommer verbrachte. Sie war von schlichter, aber eleganter Schönheit; bestimmt wurde sie mittlerweile heftig von den Medien belagert, doch Patrick war überzeugt, daß sie es schaffte, ihre Würde zu wahren. In seinem Zimmer im ›Charles‹ wurde Wallingford übel bei dem Gedanken, den Fernseher anzumachen. Wenn er nach New York zurückkehrte, würde er nicht nur sämtliche Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter beantworten müssen, sondern sein Telefon würde gar nicht mehr aufhören zu klingeln. Wenn er in seinem Zimmer im ›Charles‹ blieb, würde er irgendwann fernsehen müssen, obwohl er schon wußte, was er zu sehen bekäme - seine Kollegen, unsere selbsternannten Sittenrichter, wie sie ihre ernstesten Gesichter aufsetzten und ihre aufrichtigsten Stimmen ertönen ließen.
    Bestimmt waren sie schon über Hyannisport hergefallen. Man würde, im Bildhintergrund, eine Hecke sehen, die obligatorische Ligusterbarriere. Hinter der Hecke würden nur die oberen Fenster des strahlend weißen Hauses sichtbar sein (sicherlich Mansardenfenster mit zugezogenen Vorhängen). Doch irgendwie würde der Journalist, der im Bildvordergrund stand, es schaffen, den Eindruck zu vermitteln, als wäre er eingeladen worden.
    Natürlich würde man das Verschwinden des kleinen Flugzeugs vom Radarschirm analysieren und irgendeinen nüchternen Kommentar über den vermeintlichen Pilotenfehler abgeben. Viele von Patricks Kollegen würden sich die Gelegenheit, jfk jr.s Urteilsvermögen zu kritisieren, nicht entgehen lassen; ja, man würde das Urteilsvermögen sämtlicher Kennedys in Zweifel ziehen. Gewiß würde auch das Thema der »angeborenen Ruhelosigkeit« bei den männlichen Familienmitgliedern zur Sprache kommen. Und viel später - sagen wir gegen Ende der darauffolgenden Woche - würden dieselben Journalisten dann erklären, die Berichterstattung sei übertrieben gewesen. Sie würden ein Ende des ganzen Vorgangs fordern. So lief das immer.
    Wallingford fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand im New Yorker Nachrichtenstudio Mary fragte, wo er sei. Oder versuchte Mary etwa schon selbst, ihn zu erreichen? Sie wußte, er hatte zu seinem Handchirurgen gehen wollen; zur Zeit der Operation war Zajacs Name durch die Medien gegangen. Während er reglos auf dem Bett in dem kühlen Zimmer lag, fand er es seltsam, daß ihn nicht schon jemand vom Nachrichtensender im ›Charles‹ angerufen hatte. Vielleicht war auch Mary nicht erreichbar.
    Spontan nahm er den Hörer ab und wählte die Nummer seines Sommerhauses in Bridgehampton. Eine hysterisch klingende Frau nahm den Anruf entgegen. Es war Crystal Pitney - das war ihr Ehename. Wie ihr Nachname gelautet hatte, als er mit ihr geschlafen hatte, wußte er nicht mehr, Er entsann sich noch, daß an ihrem Liebesspiel irgend etwas ungewöhnlich war, aber was, fiel ihm nicht ein.
    »Patrick Wallingford ist nicht da!« brüllte Crystal anstelle des üblichen Hallo. »Kein Mensch hier weiß, wo er steckt!«
    Im Hintergrund hörte Patrick den Fernseher; das vertraute, selbstgerechte Dröhnen wurde von gelegentlichen Ausbrüchen der Frauen aus dem Nachrichtenstudio unterbrochen.
    »Hallo?« sagte Crystal Pitney in den Hörer. Wallingford hatte noch kein Wort gesagt. »Was sind Sie, ein Perverser?« fragte Crystal. »Es ist so einer, der schwer atmet - ich kann ihn atmen hören!« verkündete Mrs. Pitney den anderen Frauen.
    Das war es, entsann sich Wallingford. Als er mit ihr geschlafen hatte, hatte Crystal ihn gewarnt, daß sie unter einer seltenen Form von Atembeschwerden leide. Wenn sie außer Atem gerate und nicht genug Sauerstoff in ihr Gehirn gelange, bekomme sie Halluzinationen und drehe überhaupt ein bißchen durch - eine heillose Untertreibung. Crystal war ruck, zuck außer Atem geraten; ehe Wallingford noch wußte, wie ihm geschah, hatte sie ihn in die Nase gebissen und ihm mit der Nachttischlampe den Rücken verbrannt.
    Er hatte Mr. Pitney, Crystals Mann, nie kennengelernt, aber er bewunderte dessen Seelenstärke. (Nach den

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