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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Frau; ihr strahlender, aufgeregter Blick nahm seine Aufmerksamkeit ebensosehr gefangen, wie ihre Hände seinen Arm festhielten. »Ich habe sie beide verloren. Der erste hat sich von mir scheiden lassen, der zweite ist gestorben. Geliebt habe ich sie beide.« Herr des Himmels! dachte Wallingford. Hatte etwa jede Frau eines bestimmten Alters eine Variante von Evelyn Arbuthnots Geschichte erlebt? »Das tut mir leid«, sagte Patrick, doch die Art, wie sie seinen Arm drückte, ließ darauf schließen, daß sie nicht unterbrochen werden wollte. »Ich habe zwei Töchter aus erster Ehe«, fuhr die Frau fort. »Ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch habe ich kein Auge zugetan. Ich war mir sicher, daß ihnen irgend etwas Schreckliches zustoßen würde, daß ich sie beide, oder eine von ihnen, verlieren würde. Ich hatte ständig Angst.« Das klang nach einer wahren Geschichte. (Wallingford konnte nicht umhin, den Anfang jeder Geschichte auf diese Weise zu beurteilen.) »Aber sie haben überlebt«, sagte die Frau, als ob die meisten Kinder das nicht täten. »Mittlerweile sind sie beide verheiratet und haben selbst Kinder. Ich habe vier Enkelkinder. Drei Mädchen, einen Jungen. Es bringt mich um, daß ich nicht mehr von ihnen zu sehen bekomme, aber wenn ich sie sehe, habe ich jedesmal Angst um sie. Ich fange wieder an, mir Sorgen zu machen. Ich kann nicht schlafen.«
    Patrick spürte von der Stelle, wo seine linke Hand gewesen war, das Stechen von Phantomschmerzen ausgehen, doch die Frau hatte ihren Griff leicht gelockert, und es lag etwas unbestimmt Tröstliches darin, wie sie seine Hand so hartnäckig auf ihrem Schoß festhielt und sein Stumpf sich gegen die Wölbung ihres Unterleibs drückte. »Und jetzt bin ich schwanger«, sagte die Frau zu ihm; sein Unterarm reagierte nicht. »Ich bin einundfünfzig! Ich habe nicht schwanger zu sein! Ich bin nach Boston gekommen, um abtreiben zu lassen - mein Arzt hat das empfohlen. Aber heute morgen habe ich vom Hotel aus die Klinik angerufen. Ich habe gelogen. Ich habe gesagt, ich hätte eine Autopanne gehabt und müßte den Termin verlegen. Man hat mir gesagt, es ginge auch nächsten Samstag, heute in einer Woche. So habe ich mehr Zeit, um darüber nachzudenken.«
    »Haben Sie mit Ihren Töchtern gesprochen?« fragte Wallingford. Ihr Löwengriff um seinen Arm hatte sich wieder geschlossen. »Sie würden versuchen, mich zu überreden, das Kind auszutragen«, erwiderte die Frau mit neuer Heftigkeit. »Sie würden sich bereit erklären, das Kind mit ihren Kindern großzuziehen. Aber es wäre trotzdem mein Kind. Ich könnte gar nicht anders, als es zu lieben, ich wäre zwangsläufig involviert. Aber ich kann einfach die Angst nicht ertragen. Die Kindersterblichkeit... ich halte das nicht aus.«
    »Sie haben die Wahl«, erinnerte Patrick sie. »Ganz gleich, welche Entscheidung Sie treffen, ich bin sicher, es wird die richtige sein.« Die Frau machte nicht den Eindruck, als wäre sie da so sicher. Wallingford fragte sich, wer wohl der Vater des ungeborenen Kindes war; ob sich dieser Gedanke nun durch das Zittern in seinem Unterarm mitteilte oder nicht, die Frau spürte ihn entweder, oder aber sie konnte seine Gedanken lesen.
    »Der Vater weiß nichts davon«, sagte sie. »Ich bin nicht mehr mit ihm zusammen. Das war bloß ein Kollege.«
    Noch nie hatte Patrick gehört, wie jemand das Wort »Kollege« in so wegwerfendem Ton sagte.
    »Ich will nicht, daß meine Töchter wissen, daß ich schwanger bin, weil ich nicht will, daß sie wissen, daß ich Sex habe«, bekannte die Frau. »Das ist mit ein Grund, warum ich mich nicht entscheiden kann. Ich finde nicht, daß man abtreiben sollte, um die Tatsache zu verheimlichen, daß man Sex gehabt hat. Das ist kein ausreichender Grund.« »Wer will denn beurteilen, was ein ›ausreichender Grund‹ ist, wenn es Ihr Grund ist? Sie haben die Wahl«, wiederholte Wallingford. »Diese Entscheidung kann und soll Ihnen niemand abnehmen.« »Das ist ja nicht gerade tröstlich«, sagte die Frau. »Ich war wild entschlossen, abtreiben zu lassen, bis ich Sie beim Frühstück gesehen habe. Ich verstehe nicht, was Sie da ausgelöst haben.« Wallingford hatte von Anfang an gewußt, daß das alles letztlich seine Schuld sein würde. Er machte einen ganz zaghaften Versuch, seinen Arm aus dem Griff der Frau zu lösen, aber sie hatte nicht vor, ihn so einfach freizugeben.
    »Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, daß ich so mit Ihnen geredet habe. Ich habe noch nie

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