Die vierte Hand
an eine älter gewordene Mrs. Clausen erinnerte. »Abschaum... widerwärtiges Schwein... wie können Sie nachts eigentlich schlafen?« fragte die Frau ihn mit rauhem Flüstern; sie hatte die Zähne zusammengebissen, und ihre Lippen waren nur gerade so weit geöffnet, wie es nötig war, um die Worte auszuspucken. »Wie bitte?« fragte Patrick Wallingford.
»Lange haben Sie ja nicht gebraucht, um hierherzukommen, wie?« sagte sie. »Diese armen Familien... die Leichen sind noch nicht einmal geborgen. Aber davon lassen Sie sich nicht abhalten, wie? Sie leben vom Unglück anderer Leute. Sie sollten sich ›Todessender‹ nennen - nein, ›Leidenskanal‹. Sie tun nämlich mehr, als in anderer Leute Privatsphäre einspringen - Sie stehlen den Leuten ihr Leid! Sie machen ihr privates Leid öffentlich, ehe sie überhaupt die Möglichkeit haben zu trauern!« Wallingford nahm fälschlicherweise an, daß sie sich ganz allgemein zu seiner TV-Nachrichtenvergangenheit äußerte. Er wandte die Augen von dem unbeugsamen Starrblick der Frau ab, sah jedoch, daß er von den anderen Frühstücksgästen keine Hilfe zu erwarten hatte; ihrem einmütig feindseligen Gesichtsausdruck nach zu schließen, teilten sie offenbar die Ansicht dieser Verrückten.
»Ich bemühe mich, mit Mitgefühl über die Ereignisse zu berichten«, begann Patrick, aber die Frau fiel ihm fast gewaltsam ins Wort. »Mitgefühl!« rief sie. »Wenn Sie auch nur einen Funken Mitgefühl für diese Leute hätten, würden Sie sie in Ruhe lassen!« Was konnte Wallingford tun, da die Frau doch eindeutig geistesgestört war? Mit dem Stumpf seines linken Unterarms hielt er seine Rechnung auf dem Tisch fest und fügte rasch ein Trinkgeld und seine Zimmernummer hinzu, ehe er unterschrieb. Die Frau sah ihm mit kaltem Blick dabei zu. Patrick stand vom Tisch auf. Während er sich mit einem Nicken von der Frau verabschiedete und sich anschickte, das Restaurant zu verlassen, bemerkte er, wie die Kinder seinen Armstumpf anglotzten. Ein wütend dreinschauender Sous-chef ganz in Weiß funkelte Wallingford hinter einem Tresen hervor an. »Hyäne«, zischte er.
»Schakal!« rief ein älterer Mann an einem Tisch daneben.
Die Frau, die ihn als erste attackiert hatte, schleuderte ihm ein »Geier...
Aasfresser...« hinterher.
Wallingford ging einfach weiter, aber er konnte spüren, daß die Frau ihm folgte; sie begleitete ihn zu den Fahrstühlen, wo er den Knopf drückte und wartete. Er konnte ihren Atem hören, sah sie jedoch nicht an. Als die Fahrstuhltür aufging, betrat er die Kabine und ließ die Tür hinter sich zugehen. Erst als er den Knopf für seine Etage drückte und sich nach der Frau umdrehte, bemerkte er, daß sie nicht mit eingestiegen war; zu seiner Überraschung war er allein.
Es muß an Cambridge liegen, dachte Patrick - all die Intellektuellen von der Harvard University und vom M.I.T., die die Kraßheit der Medien haßten. Er putzte sich, natürlich mit der rechten Hand, die Zähne. Er war sich stets bewußt, daß er gerade gelernt hatte, sich die Zähne mit der linken Hand zu putzen, als sie ganz plötzlich abstarb. Noch immer ahnungslos, was die gerade bekannt werdende Nachricht anging, fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten zur Eingangshalle und nahm ein Taxi zur Praxis von Dr. Zajac.
Patrick empfand es als äußerst irritierend, daß Dr. Zajac - besonders dessen Gesicht - nach Sex roch. Er legte keinen Wert auf diesen Hinweis auf ein Privatleben seines Handchirurgen, während dieser ihm versicherte, die Empfindungen, die er im Stumpf seines linken Unterarms verspüre, hätten nichts weiter zu bedeuten.
Wie sich herausstellte, gab es sogar ein Wort für das Gefühl, daß unsichtbare Insekten auf oder unter seiner Haut herumkrabbelten. »Formikation«, sagte Dr. Zajac.
Natürlich mißverstand ihn Wallingford. »Wie bitte?« fragte er. »Das bedeutet ›taktile Halluzination‹. Formikation«, wiederholte der Arzt, »mit m.« »Ach so.«
»Stellen Sie sich das so vor, daß Nerven ein langes Gedächtnis haben«, sagte Zajac. »Auslöser für diese Nerven ist nicht Ihre fehlende Hand. Ihr Liebesleben habe ich erwähnt, weil Sie es selbst einmal erwähnt haben. Was Streß angeht, kann ich mir ungefähr vorstellen, was Sie für eine Woche vor sich haben. Um die nächsten paar Tage beneide ich Sie nicht. Sie wissen, was ich meine.«
Wallingford wußte keineswegs, was Dr. Zajac meinte. Was für eine Vorstellung hatte der Arzt von der Woche, die vor Patrick lag? Aber
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