Die vierte Hand
Maßstäben der Frauen im New Yorker Nachrichtenstudio waren die Pitneys schon lange »Sie Perverser!« kreischte Crystal. »Wenn ich Sie sehen könnte, würde ich Ihnen ein Ohr abbeißen!«
Das glaubte Patrick ihr unbesehen; er legte auf, ehe Crystal außer Atem geriet, zog umgehend seine Badehose und einen Bademantel an und ging ins Hallenbad, wo ihn niemand anrufen konnte. Außer Wallingford war nur eine Frau im Becken, die Bahnen schwamm. Sie trug eine schwarze Badekappe, so daß ihr Kopf dem eines Seehundes glich, und wühlte mit fahrigen Armzügen und Wechselschlag das Wasser auf. Für Patrick zeigte sie die besinnungslose Heftigkeit eines Aufziehspielzeugs. Weil er es irritierend fand, das Schwimmbecken mit ihr zu teilen, zog er sich in das Heißwasserbekken zurück, wo er allein sein konnte. Er drehte die Whirlpooldüsen nicht auf, da er das Wasser lieber ruhig hatte. Er gewöhnte sich allmählich an die Hitze; kaum jedoch hatte er eine bequeme Lage, ein Mittelding zwischen Sitzen und Treibenlassen, gefunden, als die Bahnen schwimmende Frau aus dem Schwimmbecken stieg, die Schaltuhr für die Düsen einstellte und zu ihm in das blubbernde heiße Wasser kam.
Sie war eine Frau, die den ersten Abschnitt der mittleren Jahre bereits hinter sich hatte. Wallingford nahm rasch ihren unerregenden Körper zur Kenntnis und wandte höflich den Blick ab.
Die Frau, die entwaffnend uneitel war, setzte sich auf, so daß ihre Schultern und der obere Teil ihres Brustkorbes aus dem strudelnden Wasser ragten. Sie zog sich die Badekappe vom Kopf und schüttelte ihr plattgedrücktes Haar aus. In diesem Moment erkannte Patrick sie. Es war die Frau, die ihn beim Frühstück »Aasfresser« genannt und mit ihren brennenden Augen und ihrem deutlich hörbaren Atem den ganzen Weg bis zu den Fahrstühlen verfolgt hatte. Nun konnte sie die Bestürzung, mit der auch sie ihn wiedererkannte, nicht verhehlen.
Sie fand als erste die Sprache wieder. »Mir ist das sehr unangenehm.« Ihre Stimme hatte gegenüber dem, was Wallingford bei ihrer morgendlichen Attacke auf ihn gehört hatte, ein etwas weicheres Timbre. »Ich möchte Sie nicht verärgern«, sagte Patrick zu ihr. »Ich gehe einfach ins Schwimmbecken. Das ist mir sowieso lieber als das Heißwasserbecken.« Er legte den rechten Handballen auf die Unterwasserbank und stemmte sich hoch. Wie eine offene, tropfende Wunde tauchte sein linker Unterarmstumpf aus dem Wasser auf. Es war, als hätte irgendein Geschöpf im Becken seine Hand gefressen. Von dem heißen Wasser war das Narbengewebe blutrot angelaufen.
Die Frau stand ebenfalls auf. Ihr nasser Badeanzug war nicht sehr schmeichelhaft - ihre Brüste hingen; ihr Bauch stand wie ein kleiner Beutel vor. »Bitte bleiben Sie noch«, bat sie. »Ich möchte es Ihnen erklären.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Patrick. »Im großen und ganzen bin ich Ihrer Meinung. Es ist nur so, daß ich den Zusammenhang nicht verstanden hatte. Ich bin nicht nach Boston gekommen, weil jfk jr.s Flugzeug vermißt wird. Ich wußte noch gar nichts von der Sache, als Sie mich angesprochen haben. Ich bin hierhergekommen, weil ich zu meinem Arzt wollte, wegen meiner Hand.« Instinktiv hob er seinen Stumpf, den er nach wie vor als Hand bezeichnete. Er ließ ihn rasch wieder an die Hüfte sinken, ins heiße Wasser, denn er erkannte, daß er mit seiner fehlenden Hand unabsichtlich auf ihre Hängebrüste gezeigt hatte.
Sie umfaßte seinen linken Unterarm mit beiden Händen und zog ihn mit sich in das wirbelnde heiße Wasser. Sie saßen nebeneinander auf der Unterwasserbank, und ihre Hände hielten ihn vier, fünf Zentimeter oberhalb der Stelle, wo er verstümmelt worden war. Nur der Löwe hatte ihn fester gehalten. Abermals hatte er das Gefühl, die Spitzen seines linken Mittel- und Zeigefingers berührten den Unterleib einer Frau, obwohl er wußte, daß diese Finger nicht mehr da waren.
»Bitte hören Sie mir zu«, sagte die Frau. Sie zog seinen verstümmelten Arm auf ihren Schoß. Er spürte, wie das Ende seines Unterarm kribbelte, als sein Stumpf die kleine Wölbung ihres Bauches streifte; sein linker Ellbogen lag auf Ihrem rechten Oberschenkel.
»Okay«, sagte Wallingford, anstatt sie mit der rechten Hand am Nacken zu packen und ihr den Kopf unter Wasser zu drücken. Was hätte er auch groß tun können, außer sie in dem heißen Wasser halb zu ersäufen? »Ich war zweimal verheiratet, das erste Mal, als ich noch sehr jung war«, begann die
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