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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vorlese.« »Ich habe meinem Enkel erst vor ein paar Wochen Wilbur und Charlotte vorgelesen«, sagte die Frau. »Und ich habe wieder geweint - ich weine jedesmal.«
    »An das Buch kann ich mich nicht so gut erinnern, bloß daran, daß meine Mutter geweint hat«, gab Wallingford zu.
    »Ich heiße Sarah Williams.« In ihrer Stimme lag ein untypisches Zögern, als sie ihren Namen sagte und die Hand ausstreckte. Patrick gab ihr die Hand, und ihrer beider Hände berührten das schaumige Gebrodel im Heißwasserbecken. In diesem Augenblick schaltete sich die Whirlpooldüse ab, und das Wasser im Becken wurde sofort klar und still. Das kam ein wenig überraschend und war ein allzu offensichtliches Omen, das erneut nervöses Gelächter bei Sarah Williams hervorrief, die aufstand und aus dem Becken stieg.
    Wallingford bewunderte die Art und Weise, wie Frauen in einem nassen Badeanzug aus dem Wasser steigen und dabei mit dem Daumen oder einem anderen Finger automatisch den Badeanzug hinten herunterziehen.
    Als sie stand, wirkte ihr kleiner Bauch beinahe flach - er war nur ganz leicht gewölbt. Aufgrund seiner Erinnerung an Mrs. Clausens Schwangerschaft vermutete Wallingford, daß Sarah Williams höchstens im zweiten, allenfalls im dritten Monat schwanger war. Wenn sie ihm nicht gesagt hätte, daß sie ein Kind erwartete, hätte er es nie vermutet. Und vielleicht war die leichte Wölbung ja immer da, auch wenn Sarah kein Kind erwartete.
    »Ich bringe Ihnen die Bücher auf Ihr Zimmer.« Sarah wickelte sich in ein Handtuch. »Wie ist Ihre Zimmernummer?«
    Er sagte sie ihr, dankbar für die Gelegenheit, die Dinge weiter vor sich herschieben zu können; aber während er darauf wartete, daß sie ihm die Kinderbücher brachte, würde er dennoch entscheiden müssen, ob er noch heute abend oder erst am Sonntag morgen nach New York zurückflog.
    Vielleicht hatte Mary ihn noch nicht ausfindig gemacht; so gewönne er noch etwas Zeit. Vielleicht würde er ja sogar feststellen, daß er die Willenskraft besaß, das Einschalten des Fernsehers wenigstens so lange hinauszuzögern, bis Sarah Williams auf sein Zimmer kam. Vielleicht würde sie sich mit ihm zusammen die Nachrichten ansehen; offenbar stimmten sie ja darin überein, daß die Berichterstattung unerträglich sein würde. Es ist immer besser, man schaut sich eine schlechte Nachrichtensendung nicht allein an - von einer Super Bowl ganz zu schweigen. Doch sobald er auf sein Zimmer zurückgekehrt war, brachte er keinerlei Widerstandskraft mehr auf. Er zog seine nasse Badehose aus, behielt jedoch den Bademantel an, holte - während er bemerkte, daß die Nachrichtenanzeige an seinem Telefon blinkte - die Fernbedienung des Fernsehers aus der Schublade, in der er sie versteckt hatte, und schaltete das Gerät ein.
    Er zappte durch die Kanäle, bis er den Nachrichtensender fand, wo er sich ansah, wie das, was er hätte voraussagen können (John F. Kennedys Umfeld in Tribeca), zum Leben erwachte. Da waren die schlichten Metalltüren des Lofts, das John in der North Moore 20 gekauft hatte. Das Wohnhaus der Kennedys, das einem alten Lagerhaus gegenüberlag, war bereits in einen Schrein verwandelt worden.
    jfk jr.s Nachbarn - und vermutlich auch völlig Fremde, die sich als Nachbarn ausgaben - hatten Kerzen aufgestellt und Blumen niedergelegt; paradoxerweise hatten sie offenbar auch Karten mit Genesungswünschen zurückgelassen. Zwar fand es Patrick wirklich schrecklich, daß das junge Paar und Mrs. Kennedys Schwester aller Wahrscheinlichkeit nach ums Leben gekommen waren, aber er verabscheute die Leute, die in Tribeca in ihrem eingebildeten Leid badeten; sie machten das Fernsehen in seiner schlimmsten Spielart erst möglich.
    Doch so widerwärtig Wallingford die Sendung auch fand, er verstand sie zugleich. Prominenten gegenüber konnten die Medien nur zwei Haltungen einnehmen: sie verehren oder auf sie eindreschen. Und da Trauer die höchste Form der Verehrung war, stellte man den Tod von Prominenten verständlicherweise über alles; außerdem erlaubte ihr Tod den Medien, sie zugleich zu verehren und auf sie einzudreschen. Das war eine unschlagbare Kombination.
    Wallingford schaltete den Fernseher aus und legte die Fernbedienung in die Schublade zurück; er würde bald selbst im Fernsehen und Teil des Spektakels sein. Als er sich telefonisch wegen der Nachrichtenanzeige erkundigte, war er erleichtert - nur das Hotel selbst hatte angerufen, um nachzufragen, wann er abreise.
    Er gab Bescheid, daß er

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