Die vierte Hand
am anderen Morgen abreisen werde. Dann streckte er sich in dem halbdunklen Zimmer auf dem Bett aus. (Die Vorhänge waren vom Vorabend noch zugezogen; die Zimmermädchen hatten das Zimmer nicht angerührt, weil er das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild vor die Tür gehängt hatte.) Er lag da und wartete auf Sarah Williams, eine Sympathisantin, und auf die wunderbaren Bücher für Kinder und weltmüde Erwachsene von E. B. White.
Wallingford war ein Fernsehmoderator, der sich versteckt hielt; in dem Moment, in dem die Geschichte von Kennedys vermißtem Flugzeug bekannt wurde, blieb er absichtlich unerreichbar. Was würde die Leitung des Senders von einem Journalisten halten, der nicht darauf brannte, über diese Geschichte zu berichten? Wallingford schreckte geradezu davor zurück - er war ein Reporter, der es aufschob, seine Arbeit zu tun! (Kein vernünftiger Nachrichtensender hätte gezögert, ihn zu feuern.) Und was schob Patrick Wallingford sonst noch auf? Versteckte er sich nicht auch vor dem, was Evelyn Arbuthnot abschätzig sein Leben genannt hatte?
Wann würde er es endlich leben? Das Schicksal läßt sich nicht vorausahnen, außer im Traum oder von Verliebten. Als er Mrs. Clausen kennenlernte, hätte er eine Zukunft mit ihr nie und nimmer für möglich gehalten; als er sich in sie verliebte, konnte er sich eine Zukunft ohne sie nicht mehr vorstellen.
Was er von Sarah Williams wollte, war nicht Sex, obwohl er mit seiner einen Hand zärtlich ihre Hängebrüste berührte. Auch Sarah wollte keinen Sex mit Wallingford. Mag sein, daß sie ihn bemuttern wollte, möglicherweise weil ihre Kinder weit weg wohnten und selbst Kinder hatten. Wahrscheinlich aber begriff Sarah Williams, daß Patrick Wallingford das Bemuttertwerden brauchte, und hatte - zusätzlich zu dem schlechten Gewissen, weil sie ihn in aller Öffentlichkeit beschimpft hatte - auch noch Schuldgefühle, weil sie so wenig Zeit mit ihren Enkeln verbrachte. Da gab es ferner das Problem, daß sie schwanger war und glaubte, die Angst wegen der Sterblichkeit ihrer Kinder nicht noch einmal ertragen zu können; überdies wollte sie nicht, daß ihre erwachsenen Töchter erfuhren, daß sie Sex hatte.
Sie erzählte Wallingford, sie sei außerordentliche Professorin für Englisch am Smith College. Sie hörte sich eindeutig nach Englischlehrerin an, als sie Patrick mit klarer, lebhafter Stimme zuerst aus Klein Stuart und dann aus Wilbur und Charlotte vorlas, »weil das die Reihenfolge ist, in der sie geschrieben worden sind«.
Den Kopf auf Patricks Kissen, lag sie auf ihrer linken Seite. Als einziges Licht in dem abgedunkelten Zimmer brannte die Nachttischlampe; obwohl es heller Tag war, hielten sie sämtliche Vorhänge geschlossen. Professor Williams las über die Mittagszeit aus Klein Stuart. Wallingford lag nackt neben ihr, seine Brust in ständiger Berührung mit ihrem Rücken, seine Oberschenkel an ihren Hintern geschmiegt, in der rechten Hand mal die eine, mal die andere ihrer Brüste. Zwischen ihnen eingeklemmt und für sie beide spürbar war der Stumpf von Patricks linkem Unterarm. Er spürte ihn an seinem nackten Bauch; sie spürte ihn an ihrem Kreuz.
Der Schluß von Klein Stuart, fand Wallingford, dürfte für Erwachsene zufriedenstellender sein als für Kinder - Kinder stellen höhere Ansprüche an Schlüsse.
Trotzdem sei es »ein jugendfrischer Schluß«, sagte Sarah, »voll vom Optimismus junger Erwachsener.«
Sie hörte sich wirklich wie eine Englischlehrerin an. Patrick hätte den Schluß von Klein Stuart als eine Art zweiten Beginn bezeichnet. Man hat das Gefühl, ein neues Abenteuer warte auf Stuart, während er sich abermals auf die Reise macht. »Es ist ein Buch für Jungs«, sagte Sarah. Mäusen gefiele es vielleicht auch, vermutete Patrick. Sie hatten beide keine Lust auf Sex; doch wenn einer von ihnen entschlossen gewesen wäre, mit dem anderen zu schlafen, hätten sie es getan. Aber Wallingford ließ sich lieber vorlesen, wie ein kleiner Junge, und Sarah Williams hatte (im Augenblick) eher mütterliche als erotische Empfindungen, Und außerdem, wie viele nackte Erwachsene - Fremde in einem verdunkelten Hotelzimmer am hellichten Tag - lasen einander schon E. B. White vor? Selbst Wallingford hätte eingestanden, daß er an der Ungewöhnlichkeit der Situation Gefallen fand. Sie war jedenfalls ungewöhnlicher, als miteinander zu schlafen.
»Bitte nicht aufhören«, sagte Wallingford zu Ms. Williams, und das in genau dem gleichen Ton, in dem er etwa
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