Die vierte Hand
Aber die Zentrale teilte ihm mit, daß niemand mit Namen Sarah Williams im Hotel wohne.
»Sie muß gerade abgereist sein«, sagte Patrick.
Man hörte das undeutliche Geräusch von Fingern auf einer Computertastatur. Im neuen Jahrhundert, stellte sich Wallingford vor, war das wahrscheinlich das letzte Geräusch, das wir vor unserem Tod hören würden. »Tut mir leid, Sir«, sagte der Mann von der Zentrale. »Aber eine Sarah Williams hat hier nie gewohnt.«
Wallingford war nicht sonderlich überrascht. Später würde er die englische Abteilung am Smith anrufen - und ebensowenig überrascht feststellen, daß niemand mit Namen Sarah Williams dort unterrichtete. Mag sein, daß sie sich wie eine außerordentliche Professorin für Englisch angehört hatte, als sie über Klein Stuart sprach, und daß sie am Smith lehrte, aber Sarah Williams hieß sie jedenfalls nicht. Wer immer sie auch war, der Gedanke, daß Patrick eine andere Frau betrog - oder daß es in seinem Leben eine andere Frau gab, die sich hintergangen fühlte -, hatte sie eindeutig aufgeregt. Möglicherweise betrog ja auch sie jemanden; möglicherweise war sie betrogen worden. Die Sache mit der Abtreibung hatte sich so angehört, als entspräche sie der Wahrheit, genau wie ihre Angst davor, daß ihre Kinder und Enkelkinder starben. Nur als sie ihm ihren Namen genannt hatte, war ihm ein Zögern in ihrer Stimme aufgefallen.
Wallingford ärgerte sich darüber, daß er ein Mann geworden war, für den jede anständige Frau lieber anonym bleiben wollte. Er hatte sich selbst nie so gesehen.
Als er noch im Besitz zweier Hände gewesen war, hatte er selbst mit Anonymität experimentiert - besonders, wenn er mit der Sorte Frau zusammen war, für die jeder Mann lieber anonym bleibt. Doch nach der Löwenepisode war es ihm nicht mehr möglich, nicht Patrick Wallingford zu sein, sowenig wie er als Paul O'Neill hätte durchgehen können - jedenfalls nicht für jemanden, der seine fünf Sinne beisammenhatte. Um nicht mit diesen Gedanken allein zu sein, beging er den Fehler, den Fernseher einzuschalten. Ein politischer Kommentator, der sich für Patrick immer durch intellektuell aufgeblähte Nachkarterei hervorgetan hatte, spekulierte über ein ziemlich weithergeholtes »Was wäre, wenn...« im tragisch verkürzten Leben von John F. Kennedy jr. Die Selbstgefälligkeit des Kommentators paßte dabei perfekt zur Fadenscheinigkeit seiner zentralen Behauptung, die darin bestand, daß jfk jr. in jeder Hinsicht »besser dran« gewesen wäre, wenn er sich dem Rat seiner Mutter widersetzt hätte und Filmstar geworden wäre. (Wäre der junge Kennedy etwa nicht mit dem Flugzeug abgestürzt, wenn er Schauspieler gewesen wäre?)
Gewiß hatte John Juniors Mutter nicht gewollt, daß er Schauspieler wurde, dennoch war die Anmaßung des Kommentators gewaltig. Die ungeheuerlichste seiner unverantwortlichen Spekulationen lief darauf hinaus, daß der glatteste, geradlinigste Weg zur Präsidentschaft für John jr. über Los Angeles geführt hätte! Auf Patrick wirkte dieses Theoretisieren auf Hollywoodniveau doppelt albern: erstens zu erklären, der junge Kennedy hätte in Ronald Reagans Fußstapfen treten sollen; und zweitens zu behaupten, jfk jr. habe Präsident werden wollen.
Da ihm seine anderen, persönlicheren Dämonen lieber waren, machte Patrick den Fernseher aus. Und so im Dunkeln hieß ihn der neue Gedanke, es darauf anzulegen, gefeuert zu werden, so vertraulich willkommen wie ein alter Freund. Die andere neue Vorstellung dagegen - daß er ein Mann war, dessen Gesellschaft eine Frau nur unter der Voraussetzung der Anonymität akzeptierte - machte Patrick schaudern. Sie brachte einen dritten neuen Gedanken hervor: Wenn er nun aufhörte, sich gegen Mary zu wehren, und einfach mit ihr schlief? (Zumindest würde Mary nicht darauf bestehen, ihre Anonymität zu wahren.) So leuchteten nun schon drei neue Gedanken im Dunkeln und lenkten Patrick Wallingford von der Einsamkeit einer einundfunfzigjährigen Frau ab, die keine Abtreibung wollte, sich aber schrecklich davor fürchtete, ein Kind zu bekommen. Natürlich ging es ihn nichts an, ob die Frau abtrieb oder nicht; es ging niemanden außer ihr selbst etwas an. Und wenn sie nun überhaupt nicht schwanger war? Vielleicht hatte sie ja einfach einen kleinen Bauch. Vielleicht verbrachte sie ihre Wochenenden gern mit einem Fremden im Hotel und schauspielerte einfach. Mit Schauspielerei kannte er sich aus; er schauspielerte ständig. »Gute
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