Die vierte Hand
24-Stunden-Nachrichtenkanals, die bereits unter Leidensmüdigkeit litten, bekamen Wiederholungen des Trauermarathons vorgesetzt: die Handkamera auf dem stampfenden Schiff (eine Einstellung, wie die Leichen an Bord gehievt wurden), eine völlig überflüssige Aufnahme der St.-Thomas-More-Kirche und eine weitere von einer Seebestattung, wenn auch nicht von der eigentlichen Bestattung. Am Schluß, während die Zeit ablief, sah man Jackie als Mutter, wie sie John junior als Baby im Arm hielt; ihre Hand stützte das Neugeborene im Nacken, ihr Daumen war dreimal so groß wie das winzige Ohr des Kindes. Jackies Frisur war außer Mode, aber die Perlen waren zeitlos, und das Lächeln, ihr Markenzeichen, war intakt. Sie sieht so jung aus, dachte Wallingford. (Sie war auch jung - es war 1961!)
Patrick ließ sich gerade abschminken, als Fred ihn zur Rede stellte. Fred war schon etwas älter - er drückte sich oft altmodisch aus. »Das war aber pfui, Pat«, sagte Fred. Er wartete Wallingfords Antwort nicht ab.
Ein Moderator mußte die Freiheit besitzen, das letzte Wort zu haben. Was auf dem Teleprompter stand, war nicht sakrosankt. Fred war wohl noch eine andere Laus über die Leber gelaufen; Patrick hatte noch nicht gemerkt, daß bei seinen Kollegen alles sakrosankt war, was mit der Geschichte des jungen Kennedy zu tun hatte. Daß er nicht über diese Geschichte hatte berichten wollen, deutete für seine Vorgesetzten darauf hin, daß ihm die Begeisterung für seinen Beruf abhanden gekommen war.
»Ich fand's irgendwie gut, was Sie gesagt haben«, sagte die Maskenbildnerin zu Patrick. »Irgendwie mußte das mal gesagt werden.« Es war die junge Frau, von der er meinte, daß sie auf ihn stand. Das Aroma ihres Kaugummis mischte sich mit ihrem Parfüm; ihr Geruch und wie nahe sie seinem Gesicht war, erinnerte Patrick an das Duftgemisch und die Hitze eines High-School-Balls. So geil war er nicht mehr gewesen, seit er das letzte Mal mit Doris Clausen zusammengewesen war. Er war nicht darauf gefaßt, wie die Maskenbildnerin ihn erregte - plötzlich und vorbehaltlos begehrte er sie. Aber er ging statt dessen mit Mary nach Hause. Sie gingen erst gar nicht essen, sondern gleich zu ihr in die Wohnung.
»Also, das ist wirklich eine Überraschung«, meinte Mary, als sie das erste ihrer beiden Türschlösser aufschloß. Ihre kleine Wohnung bot eine bescheidene Aussicht auf den East River. Patrick war sich nicht sicher, meinte aber, daß sie sich in der East Fifty-second Street befanden. Er hatte auf Mary geachtet, nicht auf ihre Adresse. Er hatte gehofft, er bekäme etwas zu Gesicht, worauf ihr Nachname stand; ihm wäre ein wenig wohler gewesen, wenn ihm ihr Nachname eingefallen wäre. Aber sie war nicht stehengeblieben, um ihren Briefkasten zu öffnen, und in ihrer Wohnung lagen auch keine Briefe herum - nicht einmal auf ihrem unaufgeräumten Schreibtisch.
Mary ging geschäftig umher, zog Vorhänge zu, dämpfte Lichter. Das mit ihren Kleidern drapierte, Platzangst auslösende Wohnzimmer hatte eine Polstergarnitur mit Paisleymuster. Es war die typische Zweizimmerwohnung ohne Stauraum, und Mary mochte offenbar Kleider. Im Schlafzimmer, das von noch mehr Kleidern überquoll, fiel Patrick das Blumenmuster der Tagesdecke auf, das für Mary eine Spur zu kleinmädchenhaft war. Wie der Gummibaum, der in der Küche zuviel Platz wegnahm, stammte bestimmt auch die Lavalampe auf der gedrungenen Kommode aus ihrer Collegezeit. Fotos waren keine zu sehen; ihr Fehlen stand für alles, was von ihrer Scheidung noch unausgepackt war. Mary forderte ihn auf, das Badezimmer als erster zu benutzen. Damit keinerlei Zweifel an der unveränderten Ernsthaftigkeit ihrer Absichten bei ihm aufkamen, rief sie ihm durch die geschlossene Tür hindurch zu: »Eins muß man dir lassen, Pat - dein Timing ist super. Ich habe einen Eisprung!«
Er gab irgendeine unartikulierte Antwort, weil er sich gerade mit dem rechten Zeigefinger Zahnpasta auf die Zähne strich; natürlich war es ihre Zahnpasta. Auf der Suche nach rezeptpflichtigen Medikamenten - irgend etwas mit ihrem Nachnamen drauf - hatte er ihr Medizinschränkchen geöffnet, aber er fand nichts. Wie konnte eine erst kürzlich geschiedene Frau, die in New York City arbeitete, ohne Medikamente auskommen? Mary hatte schon immer etwas leicht Bionisches gehabt; Patrick dachte an ihre Haut, die makellos war, ihre unverfälschte Blondheit, ihre vernünftigen, aber sexy Kleider und ihre perfekten kleinen Zähne. Selbst ihre
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