Die vierte Hand
Nettigkeit - wenn sie denn noch vorhanden, wenn Mary im Grunde immer noch nett war. (Also besser, ihre frühere Nettigkeit.) Aber keine rezeptpflichtigen Medikamente? Vielleicht waren sie, wie die fehlenden Fotos, von der Scheidung noch nicht ausgepackt. Mary hatte ihr Bett für ihn aufgedeckt, die Decken waren wie von einem unsichtbaren Zimmermädchen zurückgeschlagen. Später ließ sie, bei angelehnter Tür, das Badezimmerlicht brennen; das einzige andere Licht im Schlafzimmer kam von dem rosa Gewoge der Lavalampe, das wabernde Schatten an die Decke warf. Unter den gegebenen Umständen fiel es Patrick schwer, die protozoenhaften Bewegungen der Lavalampe nicht als bezeichnend für Marys bemühte Fruchtbarkeit zu betrachten. Plötzlich mußte sie ihm unbedingt erzählen, daß sie sämtliche Medikamente weggeworfen habe - »schon vor Monaten«. Inzwischen nehme sie gar nichts mehr - »nicht einmal bei Menstruationsschmerzen«. Sobald sie schwanger sei, werde sie auch mit Alkohol und Zigaretten aufhören. Wallingford blieb kaum Zeit, sie daran zu erinnern, daß er eine andere liebte.
»Ich weiß. Das macht nichts«, sagte Mary.
Ihr Liebesspiel hatte etwas derart Resolutes, daß Wallingford ihr rasch erlag; doch das Erlebnis hielt dem Vergleich mit der berauschenden Art und Weise, wie Mrs. Clausen ihn bestiegen hatte, nicht stand. Er liebte Mary nicht, und sie liebte nur das Leben, das sich ihrer Vorstellung nach daraus ergeben würde, daß sie ein Kind von ihm bekam. Vielleicht konnten sie jetzt Freunde werden.
Daß Wallingford nicht das Gefühl hatte, er fröne alten Gewohnheiten, belegt seine moralische Verwirrung. Seinem plötzlichen Verlangen nach der Maskenbildnerin zu folgen und mit ihr ins Bett zu gehen hätte bedeutet, wieder in seine frühere Lasterhaftigkeit zurückzufallen. Doch bei Mary hatte er lediglich nicht nein gesagt. Wenn sie unbedingt ein Kind von ihm wollte, warum sollte er ihr dann keins verschaffen? Es tröstete ihn, daß er den einzigen nicht bionischen Teil an ihr ausfindig gemacht hatte - eine Stelle mit blondem Flaum etwas oberhalb ihres Kreuzes. Er küßte sie dort, ehe sie sich wegdrehte und einschlief. Sie schlief auf dem Rücken und schnarchte dabei leicht, die Beine, wie Patrick bemerkte, von den Paisley-Sitzpolstern der Wohnzimmercouch angehoben. (Wie Mrs. Clausen, so ging auch Mary mit der Schwerkraft keine Risiken ein.)
Patrick schlief nicht. Er lag da und lauschte dem Verkehr auf dem Franklin Delano Roosevelt Drive, während er sich zurechtlegte, was er zu Doris Clausen sagen würde. Er wollte sie heiraten, wollte dem kleinen Otto ein echter Vater sein. Patrick hatte vor, Doris zu sagen, daß er »einer Freundin« den gleichen Dienst »erwiesen« habe, den er auch ihr »erwiesen« hatte; allerdings, würde er taktvoll hinzufügen, habe er es nicht genossen, Mary zu schwängern. Er würde zwar versuchen, Marys Kind ein nicht allzu abwesender Vater zu sein, ihr aber unmißverständlich klarmachen, daß er mit Mrs. Clausen und Otto junior zusammenleben wollte. Natürlich war es verrückt von ihm, anzunehmen, ein solches Arrangement könnte funktionieren.
Wie kam er nur auf die Idee, daß Doris diese Möglichkeit in Erwägung ziehen könnte? Er glaubte ja wohl nicht ernsthaft, sie würde sich und den kleinen Otto aus ihrer gewohnten Umgebung in Wisconsin herausreißen, und er selbst war jemand, mit dem eine Beziehung auf die Ferne (wenn überhaupt irgendeine Beziehung) garantiert nicht funktionieren konnte. Sollte er Mrs. Clausen sagen, daß er es darauf anlegte, gefeuert zu werden? Dazu hatte er sich noch nichts zurechtgelegt, und außerdem legte er es gar nicht richtig darauf an. Ungeachtet Freds schwacher Drohung befürchtete Patrick, daß er bei dem Nichtnachrichtensender unersetzbar geworden war.
Ja, sicher, vielleicht würde er sich wegen seines kleinen Aufstands am Donnerstagabend mit ein, zwei Produzenten auseinandersetzen müssen - irgendein höheres Tier ohne Rückgrat würde darüber salbadern, daß »Verhaltensregeln für alle gelten«, oder sich über Wallingfords »mangelndes Verständnis für Teamwork« verbreiten. Aber sie würden ihn nicht feuern, weil er vom Teleprompter abgewichen war, jedenfalls nicht, solange sich seine Einschaltquoten hielten.
Tatsächlich war das Zuschauerinteresse, wie Patrick zutreffend vorausgesehen hatte - und wie die minutengenauen Einschaltquoten bewiesen -, nach seinen Bemerkungen nicht nur angestiegen, sondern geradezu
Weitere Kostenlose Bücher