Die vierte Todsuende
dann sage ich es jetzt.«
»Und was ist, bitte, der Grund für diese romantische Anwandlung?«
»Oh, ich dachte, es könnte dir gefallen.«
»Tut es«, sagte sie und lockte ihn mit dem Finger.
20
Die Kriminalbeamtin Venable hatte bisher nie mit dem Kollegen Estrella zu tun gehabt, doch stellte sich zur beiderseitigen angenehmen Überraschung heraus, dass sie gut miteinander arbeiten konnten. Er fand, sie sei eine gescheite, energische Person, die durchaus bereit war, ihren Teil der lästigen Ermittlungsarbeiten auf sich zu nehmen, und sie ihrerseits fand ihn zwar etwas umständlich, doch verständig und einfallsreich. Vor allem aber verzichtete er auf das ganze Macho-Gehabe, das sie von anderen Kollegen wohnt war. So setzte sie ihn denn vollständig ins Bild und legte dabei den Hauptakzent auf die regelmäßigen Bridgeabende, ausgerechnet am Freitag.
»Das Luder hat uns angelogen«, Schloss sie.
»Kann sein, muss aber nicht. Vergessen Sie nicht, was an dem betreffenden Freitagabend draußen los war: die reinste Sintflut Sehr gut denkbar, dass die Bridgepartie abgesagt wurde. Und falls das stimmt, war sie gewiss zu Hause, wie sie behauptet. Wie schätzen Sie Joan ein?«
»Ich halte sie keinen Moment für die Täterin, Brian. Die tut keiner Fliege was zuleide.«
»Sich selbst aber schon. Schließlich hat sie mehr als einmal versucht, sich umzubringen, oder?«
»Na ja, Selbstmord wäre ihr zuzutrauen, Mord aber nie.«
Er stopfte sich seelenruhig seine Pfeife, verschnürte den Tabaksbeutel, strich ein Zündholz an und tat versuchsweise einige Züge. »Ich habe den Eindruck, dass Ihr Bild von dieser jungen Damen absolut feststeht. Sie gefällt Ihnen, nicht wahr?«
» Sehr sogar. Wir überlegen, ob wir nicht gemeinsam eine Wohnung mieten sollen.«
»Warten Sie damit lieber noch, bis Ihre Joan gänzlich entlastet ist«, riet er.
»Ach, sie ist ein solches Mäuschen, es ist nichts Böses an ihr. Ich versichere Ihnen Brian, Joan kann Ellerbee nicht ermordet haben und auch sonst niemanden. Um jeden streunenden Hund vergießt sie Tränen.«
»Hmmm … Der grausamste Killer, den ich jemals geschnappt habe, züchtete nebenher Springmäuse.«
»Wollen Sie nicht selbst mit Joan sprechen und sich ein Bild von ihr machen?«
»Noch nicht. Machen Sie vorläufig so weiter, seien Sie lieb zu ihr, aber sagen Sie ihr nicht, dass ich jetzt ebenfalls an ihrer Überprüfung beteiligt bin.«
Er verbrachte das Wochenende damit, Helen Venable bei ihrer Beschattung von Joan Yesell seinerseits unauffällig zu beschatten, und fand an der Arbeit der Kollegin nichts auszusetzen. Ferner befragte er noch einmal das Personal im St.-Vincent-Hospital, Yesells Kollegen in ihrer Anwaltskanzlei, Nachbarn, Ladeninhaber, sogar den Briefträger, der ihre Post brachte. Und alles, was er in Erfahrung brachte, bestätigte nur das Resultat von Venables Überprüfung: Joan Yesell war eine schüchterne, stille Person, die ganz zurückgezogen lebte. Nur über die Mutter erfuhr er, wenn man so will, Nachteiliges: Sie galt als rechthaberische Knallbisse, die ihre Tochter wie einen Kretin behandelte, so als habe sie weder einen eigenen Willen, noch könne sie für sich selber irgendwas entscheiden.
An ihrem ersten gemeinsamen Freitagabend saßen Estrella und Helen unweit von Yesells Haus in Helens Wagen.
»Bestimmt findet die Bridgepartie ausgerechnet heute bei der alten Yesell statt«, bemerkte Helen pessimistisch.
»Das macht nichts. Kommen die Damen her, nehmen wir uns jeder eine von ihnen vor, wenn sie nach Hause gehen. Zunächst brauchen wir nur Namen und Adresse, das andere kommt später. Geht aber der alte Drachen aus dem…«
Da erschien er bereits. Mrs. Yesell überquerte die Straße und ging flotten Schrittes in ostwärtiger Richtung.
»Da ist sie«, sagte Venable gespannt.
»Okay Folgen Sie ihr und merken Sie sich die Nummer des Hauses, in dem sie verschwindet. Ich gehe derweil mal telefonieren. Wir treffen uns wieder hier.«
Helen wetzte hinter dem Drachen her. Brian wandte sich Richtung 8. Avenue und rief aus einer Kneipe bei Joan Yesell an.
»Ja, bitte?« meldete sich eine zaghafte Stimme.
»Ich möchte Mrs. Blanche Yesell sprechen.«
«Sie ist im Moment nicht da. Wer ist denn am Apparat?«
»Hier spricht Kriminalassistent Estrella vom Polizeipräsidium. Mit wem spreche ich bitte?«
»Ich bin Miss Joan Yesell, die Tochter.«
»Miss Yesell, es ist wichtig, dass ich Ihre Mutter noch heute Abend erreiche. Sie muss eine
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