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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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kein dunkles, verwinkeltes Haus mehr haben: Wer es bezahlen konnte, baute neu und zog in ein großzügig geschnittenes Haus mit breiter, angenehmer Treppe im Inneren statt der engen Wendeltreppe, wie er sie selbst noch besaß, und legte im Hof einen Garten an. Keiner aber hatte es so weit getrieben wie Andreas Imhoff. Als er, Adolf, nach Köln gezogen war, hatten immer noch alle vom Karpfenteich des Tuchhändlers geredet, obwohl es den damals bereits seit drei Jahren gegeben hatte.
    Wie selten lag das Glück in den Besitztümern.
    Er klopfte nicht. Je weniger Zeit er hier auf der Straße vor dem Haus der Imhoffs verbrachte, desto besser. Er öffnete einfach die Tür und trat ein. »Agnes?« Das Haus war still, nur die Stieglitze zwitscherten im oberen Stockwerk.
    Die Tür zum Kontor gruselte ihn. Dort hatte Andreas Imhoff gearbeitet, und auch wenn er jetzt tot war, kam es Adolf vor, als wäre der Händler noch anwesend, als würde er den Kopf heben und dem Eindringling mit einem stechenden Raubvogelblick entgegensehen. Adolf rief nochmals, dann stieg er die breite Treppe hinauf und betrat die Stube im ersten Stock.
    Die prunkvollen Wandtäfelungen aus rotbrauner ungarischer Esche gaben dem Raum eine wohltuende Erscheinung. Zudem war der Kachelofen gut beheizt. Die Mitte des Wohnzimmers nahm ein schwerer, viereckiger Tisch ein. Auf dem Kamin standen eine Uhr und ein ovaler Spiegel.
    Die Stieglitze hüpften in ihrem großen Käfig aufgeregt von Zweig zu Zweig. Ihre Köpfchen waren rot, als hätte man sie in einen Farbtopf getaucht, dahinter folgten ein weißer Kragen und gelbe Flügel.
    Er bemühte sich, mit seinen schmutzigen Stiefeln nicht auf die Teppiche zu treten, sondern sich auf den Steinfliesen zu halten. All das würden sie ihr wegnehmen: die Teppiche, den Tisch, die Uhr, den Spiegel, das ganze Haus.
    Er zuckte zusammen. Der eichene Kleiderschrank knirschte. Etwas hatte von innen gegen die Türen des Schranks geschlagen, nur einmal, kurz. Jetzt war es wieder still.
    Mit bangem Herzen schlich er näher. Legte das Ohr an den Schrank. Nichts. Er klopfte zweimal gegen das Holz. Von drinnen antwortete ein zaghaftes Pochen.
    Er klopfte erneut.
    Wieder kam eine Antwort.
    Adolf öffnete die Schranktür. Der Duft von Kartoffelstärke und abgestandenen Pelzen schlug ihm entgegen. Im untersten Fach, einem geräumigen Schrankabteil, hockte Sophie und hielt eine Puppe auf dem Schoß. Mit großen grünen Augen sah sie ihn an. Das herzförmige Gesicht der Achtjährigen wirkte zerbrechlich, als wäre es aus Glas. »Was machst du hier drin?«, fragte er.
    Sie schwieg. Dünn fielen ihr die blonden Haare auf die zarten Schultern.
    »Warum hast du dich versteckt?«
    Wieder nur ein langer, stiller Blick.
    Was diese Kinderaugen alles gesehen hatten! Agnes hatte nur Andeutungen gemacht, aber er konnte sich denken, dass sich Andreas’ Wutanfälle nicht auf sie beschränkt hatten. Adolf stellte sich vor, wie Andreas seine Tochter bei den dünnen Ärmchen gepackt und fortgeschleift hatte, um sie in den Keller einzusperren. Oft war die Tochter sein Druckmittel gewesen, um Agnes’ Willen zu beugen. Jedes Leid, das die Kleine erdulden musste, schmerzte ihre Mutter dreifach, und das hatte er sich zu Nutzen gemacht. Dennoch hielt Agnes an der Ehe fest, hatte versucht, ihren Mann zu besänftigen und zu lieben, hatte ihm sogar ein kleines silbernes Kruzifix geschenkt, um den Glauben neu in ihm zu entfachen und ihn an Gottes Gericht zu erinnern, um ihn zu bessern.
    Adolf kniete sich nieder. »Wie heißt deine Puppe?«
    »Marie.«
    »Und was machst du mit den Sägespänen?«
    »Marie hat Hunger.« Sie fütterte die Puppe. Die Späne fielen vom Puppengesicht hinunter. Fürsorglich reichte das Kind ihr immer neue.
    Er hörte Schritte auf der Treppe und drehte sich um.
    »Adolf! Gott sei Dank.« Agnes betrat die Wohnstube. »Ich habe so gehofft, dass du kommen würdest.« Sie trat zur Wandvertäfelung, in der sich eine Nische mit einem Waschbecken aus Zinn befand. Darüber ragte eine kunstvoll geschwungene Muschel aus der Wand. Mit einem flinken Handgriff öffnete sie die metallene Wasserblase über dem Becken und ließ sich das Nass über die Hände spülen. Dann schloss sie die Wasserblase wieder, trocknete sich die Hände am bereithängenden Tuch ab und trat zu ihm.
    »Ich hab dir Süßigkeiten mitgebracht«, sagte er und hielt ihr die aus Stroh geflochtenen Schachteln hin.
    Sie schüttelte den Kopf. »Das brauche ich nicht. Ich brauche

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