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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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eine mondlose Nacht. Immer näher grollte der Donner, eine plötzliche Windböe trieb etwas Metallisches durch die Gassen; es schepperte, dann war es wieder ruhig. So ruhig, dass Gerlin unwillkürlich nach ihrem Herz tastete, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich nicht mehr träumte.
    Ein Stöhnen durchbrach die Stille. Hannes wälzte sich auf die andere Seite. Kurz öffnete er die Augen, tastete nach der Decke und zog sie ganz zu sich, um dann mit einem zufriedenen Grunzen wieder einzuschlafen.
    Gerlin betrachtete den schwammig gewordenen Körper, das schüttere Haar. Sein Atem ging schwer und röchelnd. Sie konnte riechen, dass er wieder getrunken hatte. Wie beinahe jeden Abend, wenn die Brüder von der Hutmacherzunft sich trafen, um zu saufen und um den nächsten Auftrag zu feiern: ein besonders schön gelungenes Stück Filz oder irgendetwas anderes Banales. Hauptsache, man ließ den Bierhumpen kreisen.
    Angewidert verzog sie den Mund.
    Ihr Leben war so anders geworden, seitdem sie ihn hatte heiraten müssen. Aber er konnte ja nichts dafür. Es waren die Umstände gewesen. Sie selbst hatte seinem jahrelangen Werben nachgegeben, nachdem Andreas sie wegen Agnes verlassen hatte.
    Mit einer abrupten Bewegung wischte sich Gerlin eine Träne von der Wange und setzte ihre nackten Füße auf den kalten Steinboden.
    In den Schlafzimmern der
Wolkenburg
war es warm. Ein jedes besaß einen Kamin, der am Abend noch einmal geschürt wurde, damit die Bewohner die Kälte des Winters ertrugen. Hier aber, in ihrem Haus, zog der Wind durch die Ritzen des feuchten Mauerwerks und trug den modrigen Geruch herüber, als wollte er sie und ihr Schicksal verhöhnen.
    Gerlin presste die Zähne aufeinander.
    Sie
hätte an Agnes’ Stelle sein sollen! Stattdessen musste sie sich nun damit begnügen, das reiche Leben ihrer Cousine als Zaungast zu betrachten. Man erwartete sogar, dass sie sich für diese Gastfreundschaft erkenntlich zeigte und vor Gericht davon erzählte, wie wohltätig Agnes doch sei.
    Was für ein übles Schaustück!
    Gerlin wünschte, sie könnte sich jemandem anvertrauen; über ihre Wut sprechen, über ihre Ängste. Wie oft war sie in die Kirche gegangen, von Kindesbeinen an, und hatte den Herrn um Antworten gebeten, doch Er hatte stets geschwiegen. Das Herz war ihr beim Verlassen des Gotteshauses ebenso schwer gewesen wie zuvor. Und statt Trost und Gnade zu empfinden, war ihre Seele noch immer aufgewühlt gewesen, wie die Wogen einer stürmischen See.
    Ein Blitz durchzuckte die Dunkelheit und beleuchtete für einen kurzen Moment die karge Kammer, in der nicht mehr stand als ein Bett und ein Stuhl, über den sie ihre Kleider gehängt hatte. Nur einen Wimpernschlag später folgte ein gewaltiges Grollen.
    Es war Thor, der Gott des Donners, der in diesem Augenblick über den Himmel zog!
    Gerlin tastete nach dem Amulett an ihrem Hals, fühlte Kraft und Gewissheit. An Ihn würde sie sich wenden können, Er würde ihr Flehen erhören. Er hatte es schon einmal getan.
    Sie schlüpfte in ihr verblichenes Kleid, warf das Obergewand mit den goldgewirkten Ornamenten über und schulterte den Beutel mit den Opfergaben, den sie bereits am Vortag gepackt hatte. Als sie in ihre fellgefütterten Lederschuhe stieg, durchdrang Hannes’ Stimme scharf den Raum.
    »Wo willst du hin?«
    Ein weiterer Blitz erhellte seinen nackten Körper. Er hatte sich aufgesetzt.
    »Nach draußen.«
    »Bei diesem Sauwetter?«
    »Ich möchte Thor opfern, bevor die Welt untergeht.«
    »Thor!« Hannes sprach diesen Namen nicht, er spie ihn aus. »Ist es nicht unser Herr, zu dem du beten solltest? Und zu unserer seligen, immerwährenden Jungfrau Maria?«
    »Was macht es schon, an wen man sich wendet, wenn der Eine nicht zu helfen vermag?«, flüsterte Gerlin und band sich mit einer fast beiläufigen Bewegung die langen, silberblonden Haare zu einem festen Knoten. »Selbst höchste Ratsherren beten nicht mehr zum Gott deines Papstes.« Sie wandte sich zur Tür und zog sie auf.
    »Du bleibst hier. Ich befehle es dir!«
    »Mäßige deine Stimme. Oder willst du die Kinder wecken?«
    »Mach sofort die Tür zu!«
    »Nein, Hannes. Ich werde gehen und um Unterstützung für die morgige Verhandlung bitten.«
    »Für die Verhandlung? Ich verstehe dich nicht, was ist denn schon dabei? Du sollst sagen, was für ein guter Mensch Agnes ist und dass Andreas ihr das Leben zur Hölle gemacht hat. Das kann doch nicht so schwer sein!« Seine Stimme wurde weicher. Er stand auf und

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