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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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sich doch dem Prozess entziehen!
    Die ganze Wahrheit war schrecklicher, als irgendjemand ahnen konnte, nicht einmal Agnes.
    Sie wünschte sich fortzugehen, die Stadt zu verlassen, hinauf in jenes Land im Norden, aus dem ihr Vater stammte und dessen Wurzeln sie tief in sich spürte. Aber was half es, wenn man seine Heimat nur aus den Erzählungen kannte und nicht einmal ihrer Sprache mächtig war?
    Das gleißende Licht eines Blitzes drang durch die geschlossenen Lider.
    Nein. Man konnte seinem Schicksal nicht entrinnen. Die drei weisen Göttinnen saßen vor dem Weltenbaum und spannen ihre Fäden. Für jeden. Sie durfte Köln nicht den Rücken kehren, hier war die Heimat ihrer Kinder. Sie war bereit, auf alle Fragen wahrheitsgemäß zu antworten, und sie musste Thor um Kraft bitten, dieses zu überstehen.
    Die Wahrheit.
    Ein Gedanke keimte in ihr auf und gewann rasch an Gestalt. Hatte der Donnergott selbst diese Träume geschickt, um ihr einen Hinweis zu geben? Am Ende war ihre Seele einem Spiegel gleich in tausend Stücke zersprungen, so, als zerfiele auch die Wahrheit in einzelne Teile.
    Was, wenn man sie nur zu Dingen befragte, die ihre eigene Schuld nicht berührten? Wenn sie nur
den
Teil der Wahrheit erzählte, den man von ihr verlangte?
    Vater, nur einen Teil …
    Gerlin schlug die Augen auf. Und noch im selben Augenblick wusste sie, dass Thor nach einem ganz persönlichen Opfer verlangte.
    Ja, man konnte seinem Schicksal nicht entrinnen. Aber man konnte versuchen, diejenigen, die es bestimmten, zu besänftigen.
    Langsam löste sie ihr Haar, griff nach einer Tonscherbe, mit der sie für gewöhnlich Fleisch und Brot als Opfergaben schnitt, umfasste eine dicke Strähne und trennte sie vom Kopf. Während sie die Haare ins Feuer warf und sich mit ausgebreiteten Armen in Richtung Norden stellte, spürte sie, dass die Götter ihr zur Seite stehen würden.
    »Thor«, flüsterte sie, riss das hammerförmige Amulett vom Hals und hielt es hinauf in den Himmel, »Beschützer der Menschen, ich gebe mich in deine Hände. Gib du mir Mut und Kraft, die Wahrheit zu sagen, die man von mir zu hören verlangt.«
    Ihre Worte gingen im Grollen des Donners unter. Heftiger Wind blähte die Ärmel des Mantels, ließ ihr helles Haar wie ein Brauttuch flattern, stob den Reisig auf und mit ihm verglimmende silberblonde Fäden. Funken peitschten über die Büsche und Wege und verloschen im Flug. Noch einmal schloss Gerlin die Augen und entließ all die Furcht mit einem lauten Schrei. Dann war es still.
    Das Gewitter zog langsam nach Osten. Als Gerlin die halbvolle Schale mit dem Gerstenbrei in die Mitte des Steinkreises stellte und das kleine Feuer zu ihren Füßen löschte, schlich sich schon der Morgen ganz sacht durch die Wolken und tauchte den Ort in ein milchig-blaues Licht.
    Ja. Sie würde die Wahrheit sagen. Für sich und für die Seele ihres Vaters. Und sie hoffte, man würde ihr die richtigen Fragen stellen.

KAPITEL 10

15. 11. 1534

    Vierter Verhandlungstag

    D ie Sonne schien kalt auf die Dächer der Stadt und warf funkelnde Lichtinseln über die langsam versickernden Pfützen des Vortages. Gerlin raffte den Rock und eilte in Richtung Domhof. Die Tränen waren versiegt und hatten einem Gefühl der Stärke und der Zuversicht Platz gemacht.
    Hannes war noch in der Nacht verschwunden. Wahrscheinlich war er zu einer seiner Huren gelaufen, oder aber er hatte sich bei einem Hutmacherkumpel besoffen; es war ihr gleich.
    »Mutter!«
    Zunächst nahm Gerlin das Rufen nicht wahr, erst als es fast gebrüllt wurde, hielt sie inne und drehte sich um. »Martin!«
    Ihr Sohn kam langsam näher. Die Schultern steif, das Barett tief ins Gesicht gezogen. Als er vor ihr stand, sah sie, dass er geweint hatte.
    »Mutter. Ich wollte dich fragen …« Er schluckte. Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Sein Haar war flachsblond, beinahe so hell wie das ihre. »Stimmt es, was Vater gestern Abend behauptete?«
    »Dass nicht
er
dein Vater ist, sondern Andreas Imhoff?«, ergänzte Gerlin. Sie hatte gehofft, es ihm ein anderes Mal erklären zu können. Aber seine dunklen Augen sahen sie flehend an. »Ja, es stimmt«, bestätigte sie flüsternd.
    Der Junge ballte die Hände zu Fäusten. »Er war ein Ungeheuer!«, rief er. Aus dem eben noch sanften Blick sprang unverhohlene Wut. »Hat er Agnes geschlagen, so wie die Magd behauptet? Sie und Sophie?«
    Gerlin erschrak. »Woher weißt du das?«
    »Tu doch nicht so. Ganz Köln redet davon. Selbst in der

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