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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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Werkstatt machen die Lehrlinge ihre Witze darüber. Soll ich ihnen sagen, dass es mein Vater ist, über den sie sich das Maul zerreißen?«
    »Die Menschen übertreiben gerne, wenn sie über jemanden tratschen.«
    »Nein, Mutter, sie übertreiben nicht.« Er schluckte hart. »Ich habe Stingins Aussage gehört. Ich stand ganz hinten im Gerichtssaal, dort wo man die Schaulustigen getrennt von den Geladenen zusammenpfercht.«
    »Kinder sind im Gerichtssaal nicht zugelassen!«
    »Niemand hat mich aufgehalten«, rief er, und seine Stimme klang tief und stolz.
    Mit einem Mal erkannte Gerlin, dass er beinahe ein junger Mann war. Ihr wurde warm ums Herz. Er zählte erst zehn Jahre, und doch überragte er manchen Erwachsenen bereits um Kopfeslänge. Er kommt nach seinen nordischen Vorfahren, dachte sie. Nur die Augen und die fein gezeichneten Ohren, die hat er von seinem Vater.
    »Mag sein, dass Andreas kein einfacher Mann war und in seinem Jähzorn unberechenbar. Aber das war nicht immer so.« Sie lächelte und strich Martin die widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. »Erinnerst du dich, wie er dir ein Holzschwert schenkte, nachdem das alte zerbrochen war?«
    Gerlin dachte an das letzte Treffen vor wenigen Wochen, als sie Andreas offenbart hatte, dass er einen Sohn hatte. Er hatte sie mit eisigen Augen angesehen. Geringschätzig. Aber hatte er es nicht all die Jahre gewusst, ja, wissen müssen? War nicht seine schlecht verborgene Zuneigung zu diesem Kind Beweis genug?
    Martin stieß die Hand seiner Mutter von sich. »Ich will nicht, dass er mein leiblicher Vater ist. Hannes, ja, der weiß, wie man ein gutes Holzschwert fertigt. Andreas hingegen tat nur die Geldkatze auf, um eines zu kaufen. Und so etwas will ein guter Va …«
    Seine Worte gingen im plötzlich einsetzenden Klang der Wandlungsglocke unter, die mit ihrem harten Geläut die Luft durchschnitt; gleich darauf stimmte die Angeliusglocke einige Töne höher einen klagenden Singsang an. Der Segen war gesprochen, die Pforten des Doms öffneten sich weit und entließen die Gläubigen, von denen die meisten weiter in Richtung Ratsgericht liefen.
    Sie wollen sich den Prozess nicht entgehen lassen, dachte Gerlin und spürte eine plötzliche Spannung, die sich unangenehm in der Magengrube bemerkbar machte.
    Inmitten der Menschen entdeckte sie Augustin von Küffen, dessen jugendlicher Übermut seinem Mentor Mathis von Homburg wohl ein Dorn im Auge gewesen war. Er eilte mit großen Schritten an Ursel Rumperth vorbei, die sich in Richtung des Imhoff’schen Wirtshauses
Zum kleinen Ochsen
aufmachte, dessen Pächterin sie war. Einen Augenblick lang blieb die stämmige Wirtin stehen, sah bedauernd in Richtung des Gerichtsgebäudes, dann setzte sie kopfschüttelnd und mit forschem Gang ihren Weg fort.
    Als Gerlin sich wieder ihrem Sohn zuwandte, blickte sie in prüfende Augen. Sezierte er sie? »Rasch, geh zurück in die Werkstatt. Hannes wundert sich gewiss, wo du bleibst.«
    »Weißt du, was das Schlimmste ist, Mutter?«, fragte Martin unvermittelt. »Dass du zum Zeitpunkt meiner Zeugung unverheiratet gewesen bist!« Er verzog den Mund. Sein Ausdruck spiegelte blanke Verachtung wider. »Nein, ich geh’ nicht in die Werkstatt. Ich will sehen, was du vor Gericht zu sagen hast. Weiß Agnes eigentlich, dass du eine Ehrlose bist?« Damit lief er in Richtung des südlichen Domhofs, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Seine Worte schnitten ihr direkt ins Herz. War es nicht langsam genug?
    Gerlin tastete nach dem Amulett an ihrem Hals und umschloss es fest.
Es ist an der Zeit, dem Schicksal endlich die Stirn zu bieten und für Gerechtigkeit zu sorgen!

    Am Fuße der steinernen Treppe, flankiert von ihrem Advokaten Mathis von Homburg, dessen Mausgesicht müde und eingefallen wirkte, und ihrer Magd Stingin, die nervös an den Schnüren ihres Umhangs nestelte, stand Agnes. Sie sah wieder wunderschön aus. Das hüftlange Haar war mit Bändern zum Zopf geflochten, kostbare Steine funkelten am dunklen Stoff des Kleides. Die Wintersonne schien auf ihre makellose helle Haut und überzog sie mit einem samtenen Schimmer. Unwillkürlich fuhr sich Gerlin über das eigene Gesicht, das bei der leisesten Aufregung rote Flecken bekam.
    Agnes’ Glanz schien alle anderen zu überstrahlen. Die Menschen gingen tuschelnd an ihr vorbei, fast ehrfürchtig; ein Mann lupfte höflich seinen Hut.
    Es war wie immer.
    Jetzt erst entdeckte Agnes ihre Cousine und kam ihr entgegen. »Wo bleibst du, Gerlin? Wir

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