Die vierte Zeugin
Titel:
Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg
haben dich beim Gottesdienst vermisst! Jetzt rasch, die Verhandlung wird jeden Augenblick beginnen.«
Sie begrüßten sich mit einer Umarmung. Gerlin spürte Agnes’ Atem, roch den feinen Duft ihres Haares.
»Ich danke Gott, dass man dich gebeten hat, für mich auszusagen«, wisperte Agnes.
Gerlin trat einen Schritt zurück. »Du weißt, dass ich vor Gericht die Wahrheit sagen muss. So, wie ich es meinem Vater geschworen habe, als er sterben musste, weil jemand falsches Zeugnis gegen ihn ablegte.«
»Von welcher Wahrheit redest du?« Agnes’ Augen weiteten sich. Mit einer hilflosen Geste warf sie die Hände in die Luft. »Um Himmels willen, Gerlin, sie wollen nicht wissen, was uns damals entzweite. Lass die alten Dinge ruhen, wenn du willst, dass Recht gesprochen wird. Es geht um nichts anderes als um die Unterschrift auf diesem Schuldschein! Alles, was wir nachweisen wollen, ist, dass Andreas mich dazu gezwungen hat.«
»Und?« Gerlin verschränkte die Arme. »Hat er es getan?«
Stingin, die zu ihnen geeilt war, wohl um sie zum Aufbruch zu mahnen, blieb erschrocken stehen. Ihre Augen wanderten von einer zur anderen.
Agnes schnappte nach Luft. »Das muss ich dir nicht beweisen, du selbst hast immer wieder gesehen, wie brutal er war!«
»Du hast davon erzählt, ja, aber ich war niemals anwesend, als er dich schlug«, entgegnete Gerlin. Mit Blick auf Stingin, deren Augen sich nun mit Tränen füllten, ergänzte sie rasch: »Ich glaube es dir, Agnes, ich bin ja kein Ungeheuer! Deine Magd hat es unter Eid versichert, und auch Sophie war nach solchen Übergriffen noch scheuer und in sich gekehrter als sonst.« Sie legte ihre Hand auf Agnes’ Arm. »Ich habe deine Wunden noch gut in Erinnerung. Aber wie soll ich bezeugen, dass er dich zur Unterschrift zwang? Ich war doch nicht dabei, als du die Feder auf das Papier gesetzt hast!«
Agnes zog den Arm weg. »Deinen Worten entnehme ich, dass du es mir zutraust, zu lügen!« Sie schrie es beinahe. Schaulustige blieben stehen, gafften zu den beiden herüber.
Gerlin zog ihre Cousine ein Stück beiseite. »Sag mir nur eines, Agnes«, flüsterte sie. »Hat dein Mann gewusst, was du treibst, während er in Aachen war?«
Agnes erstarrte. »Nein! Das wirst du nicht wagen!« Das Rehbraun ihrer Augen wirkte mit einem Mal fast schwarz. »Ich bin Teil deiner Familie«, zischte sie. »Hast du das vergessen?«
Eine Träne löste sich und rollte über ihre Wange. Dann drehte sie sich um und stieg mit erhobenem Kopf die Treppe zum Ratsgericht hinauf, gefolgt von Stingin und dem Anwalt, der sich noch einmal mit fragendem Gesichtsausdruck nach Gerlin umdrehte und dann an den Stadtwachen vorbei im Dunkel des Gebäudes verschwand.
Der Gerichtssaal war an diesem Tag wärmer als sonst. Man hatte den holzgetäfelten Raum wohl schon früh am Morgen beheizt, nun loderte das Kaminfeuer hell und freundlich. Vielleicht kam die Wärme aber auch von den vielen Menschen, die sich auf den Bänken drängten oder hinter der Absperrung so dicht beieinander standen, dass man eine Frau heraustragen musste, die in der Enge in Ohnmacht gefallen war. Die Büttel hatten vergeblich versucht, die Zahl der Schaulustigen zu begrenzen, selbst ihre Hellebarden hatten das Volk nicht vom Eindringen abhalten können. Nun hatten sie Mühe, die Menschen zu beruhigen, die lautstark um einen Platz in der vordersten Reihe kämpften oder der Angeklagten Durchhalteparolen zuriefen.
Auch vor dem erhöhten Richterpult war es unruhig zugegangen. Nun lösten sich die Schöffen von ihrer erregt geführten Debatte und nahmen ihre Plätze ein. Gerlins Herz begann heftig zu klopfen. Noch einmal berührte sie das Amulett an ihrem Hals.
Es war so weit.
Der Richter eröffnete die Sitzung und rief sie zu sich. Aus der Nähe verströmte er eine spürbare Macht, die seit dem ersten Verhandlungstag stetig zugenommen zu haben schien. Gerlins Herz ging noch heftiger. Ehrfürchtig senkte sie ihren Blick zu den schachbrettartigen Bodenfliesen und legte die Hand auf die ihr dargebotene Heilige Schrift zum Schwur.
Die Bibel.
Sie hätte auf alles geschworen, was man ihr vorlegte, und sei es der Schädel der Heiligen Ursula, es war ihr gleich. In ihr brodelte es, und es stieg ihr in die Kehle, als wollte es hervorbrechen wie das kochende Wasser eines Geysirs. So viele Jahre hatte sie ihre Wut und Verbitterung heruntergeschluckt und sich nach anderen gerichtet. Es wollte sich nicht mehr eindämmen lassen. Man hatte ihre kühle
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