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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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nicht beirren. »Ihr seid auf dem Weg zum Dom, nicht wahr?«, plapperte er eifrig, während er neben Hauser herlief. »Ich will mir auf dem Domplatz mein Frühstück verdienen.«
    Der Richter, der sich eben noch vorgenommen hatte, sich nicht mehr ablenken zu lassen, wagte einen Blick zur Seite. Gabriel bewegte sich so, als würde er tanzen. Verwundert drosselte Hauser das Tempo, er lächelte.
    »Ich könnte Euch ein Liedchen spielen, Herr Richter.« Schon zog der Junge die Flöte aus dem Gürtel und setzte sie an die Lippen.
    Hauser zögerte. Dann sah er, dass das Instrument nicht aus gewöhnlichem Birnen- oder Pflaumenholz, sondern aus kostbarer Zeder gefertigt war. Gabriel legte seine Lippen zart um den Schnabel am Kopfstück und presste seine Finger auf die sieben Grifflöcher.
    Die Melodie war schwerelos, ein heiteres Tänzchen, leicht und gefällig. Gabriels Fingerspitzen tanzten über die Flöte, er hielt seine Augen geschlossen, als träumte er die Melodie herbei.
    Die Töne trafen Hausers Herz. Der Richter spürte, dass sich etwas Schweres von ihm löste. Ihm war, als öffnete sich eine Tür, die lange verschlossen gewesen war. Die musikalischen Figuren schienen menschlichen Affekten zu gleichen. Taumelnd wich er zurück. Eine niedrige Mauer, die eines der Häuser am Neumarkt umschloss, gab ihm Halt. Kalt spürte er den Stein in seinem Rücken.
    Dann war es vorbei. Gabriel löste die Lippen von der Flöte, lächelte und öffnete die Augen.
    Hauser räusperte sich und versteckte seine Rührung hinter der undurchdringlichen Maske von Strenge, die er sich für besonders hartnäckige Fälle zugelegt hatte. »Von wem ist das Stück?«
    »Von mir.« Gabriel hielt ihm seine Hand entgegen. Einen Moment lang starrte Hauser verständnislos auf die nach oben gestreckte Handfläche, bis er begriff. Der Junge erwartete einen Obolus für sein Spiel.
    Vergeblich durchwühlte Hauser den Beutel am Paltrock. Er wusste, dass er keine Münze bei sich hatte. Im Alltag benötigte er kein Geld, und daheim verwaltete Betty das richterliche Einkommen. In seinem Beutel, so stellte er fest, befanden sich lediglich etwas Tabak, eine Pfeife und der schwere, eiserne Schlüssel, den man ihm gestern ins Gericht gebracht hatte.
    Der Richter suchte nach einer Ausflucht, da fiel ihm der süße Zopf ein. Einen Moment zögerte er noch unentschlossen, schließlich langte er doch in den Mantel und zog das klebrige Backwerk hervor. Triumphierend hielt er Gabriel den nunmehr unförmigen Teigklumpen entgegen. »Davon wirst du wohl satt, Junge.«
    Dann sah er, dass etwas an dem süßen Zopf klebte. Ein Bogen löste sich von dem Kuchen und segelte zu Boden. Bevor Hauser sich noch bücken konnte, hielt Gabriel den Brief schon in den Händen. Neugierig betrachtete er das glänzende Siegel.
    »Her damit!« Hastig entriss Hauser dem Jungen das Papier.
    Allmächtiger!
Er stopfte den verklebten Bogen zurück in seine Taschen und nahm sich vor, endlich ein sicheres Versteck für das Schreiben zu finden. Schon seit Wochen trug er den Brief mit sich herum – das Versprechen auf ein neues Leben.
    Niemand durfte davon erfahren.
    Jetzt aber zum Gericht!
Hauser setzte sich wieder in Bewegung, wobei er darauf achtete, nicht mehr außer Atem zu geraten. Über den Neumarkt führte sein Weg zum Alten Markt und dann hinauf zum Domplatz.
    »Der Brief …«
    Gabriel ließ nicht von ihm ab.
    »Das war doch das kaiserliche Siegel, Richter.«
    Hauser tat so, als hörte er ihn nicht. Der Dom war schon in Sichtweite, beruhigt tastete er nach dem Papier in seinem Mantel.
    In Gedanken sah Hauser die schöne Agnes Imhoff vor sich. Zuletzt hatte sie ihn wohl mit ihren Tränen rühren wollen. Doch ihr Ausbruch vor Gericht hatte seinen Blick für die Fakten nicht getrübt. Bald würde sie wieder vor ihm stehen, die Stadt erwartete sein Urteil. Nach dem turbulenten Prozess und den überraschenden Zeugenaussagen fragte sich ganz Köln: War die Tuchhändlerwitwe tatsächlich eine Betrügerin und Ehebrecherin? Ja, hatte sie sogar den Tod ihres Mannes zu verantworten? Oder war sie eine unschuldig in Not geratene Frau?
    Das Schicksal der wohlhabenden Angeklagten hing von seinem Richterspruch ab. Wie also würde das Gericht entscheiden?
    Wie würde
er
entscheiden?
    »Darf ich Euer Gemüt erheitern, Richter?«, fragte der Junge und setzte die Flöte noch einmal an die Lippen.
    Aus den Augenwinkeln blickte Hauser wieder zur Seite. Die Wintersonne brach durch die Nebelschleier, und im

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